Begründete Zweifel

Terror Der NSU-Prozess geht dem Ende entgegen. Doch die Hintergründe der Morde bleiben unklar. Und Beate Zschäpe hilft den Anklägern
Ausgabe 18/2018
Wiederholt hat Zschäpe die tendenziöse Anklagekonstruktion bestätigt
Wiederholt hat Zschäpe die tendenziöse Anklagekonstruktion bestätigt

Foto: Sebastian Wiedmann/Imago

Als vor fünf Jahren der NSU-Prozess begann, hatten mehr als 900 Reporter ihre Akkreditierung beantragt, der Platz vor dem Justizzentrum in München war an diesem 6. Mai 2013 den ganzen Tag voller Menschen. Das gesellschaftliche Klima versprach, die Hintergründe der Mordserie an neun Männern mit ausländischen Wurzeln und einer Polizistin aufzuklären. Fünf Jahre danach ist Gewissheit eingekehrt: Der Sicherheitsapparat der Bundesrepublik Deutschland tut alles, damit die Hintergründe nicht aufgeklärt werden können. Das ist auch ein Ergebnis. Zwar kein gewünschtes, aber ein reales. Es macht den NSU-Skandal zum politischen Skandal.

„Dieser Prozess ähnelt einem oberflächlichen Hausputz“, sagte Yvonne Boulgarides, die Frau des siebten Opfers Theodoros Boulgarides, in ihrem Schlusswort vor Gericht. Man sollte diesen Satz im Hinterkopf haben, wenn über die derzeit laufenden Plädoyers der Verteidigung diskutiert wird. Es reicht nicht, den Anwälten von Beate Zschäpe, die für ihre Mandantin „maximal zehn Jahre Haft“ verlangt haben, den Strafantrag der Bundesanwaltschaft auf lebenslange Haft plus Sicherungsverwahrung entgegenzuhalten. Zwischen Anklage und Verteidigung herrschen nicht nur Gegensätze, sondern erstaunliche Koinzidenzen. Wiederholt hat Zschäpe die tendenziöse Anklagekonstruktion bestätigt, nach der alle Verbrechen ausschließlich von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos verübt worden seien. Lediglich ihren eigenen Tatbeitrag schwächte sie ab.

Ausgerechnet die Hauptangeklagte hilft der Bundesanwaltschaft aus der Verlegenheit, nicht zweifelsfrei belegen zu können, dass die beiden Uwes bei allen Taten die alleinigen Täter waren. Was Zschäpe aber von dieser Art „Geständnis“ hat, erschließt sich bisher nicht. Obwohl ihre Verteidigungsstrategie wie ein Scherbenhaufen erscheint, spielt sie das Spiel weiter mit.

Wie konstruiert die Anklage ist, die Zschäpe stützt, demonstrierten die Plädoyers von Opferanwälten der Nebenklage. Sie legten fundiert dar, dass es Mordhelfer in den Tatstädten gegeben haben muss. Dass für manche Morde möglicherweise andere Täter verantwortlich waren (Kassel, Heilbronn). Dass unter Umständen sogar Zschäpe selbst geschossen hat (Rostock).

Nur mit dem Geschehen im Gerichtsbunker zu München lässt sich dieser monströse Mordkomplex jedoch sowieso nicht erfassen. Man muss dazu vor allem auch die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse einbeziehen, in denen begründete Zweifel an der Drei-Täter-Theorie der obersten Strafverfolgungsinstanz des Staates geltend gemacht worden sind. Bis heute dringen in diesen Gremien Sachverhalte an die Oberfläche, die belegen, wie selektiv das ist, was die Justiz verhandelt.

In Baden-Württemberg ergaben sich Hinweise auf eine zweite Lieferkette von Pistolen im Umfeld des NSU. Woher 17 der 20 Schusswaffen kamen, die unter der Habe des Trios gefunden wurden, können die Ermittler nicht sagen, weil sie es schlicht nicht ermittelt haben. In Brandenburg wurde enthüllt, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz über alle Schritte des V-Mannes „Piatto“ im Bilde war, der 1998 gemeldet hatte, dass sich die drei Untergetauchten bewaffnen wollten, und vor allem, dass sie in Chemnitz zu finden waren.

Über ein Dutzend Untersuchungsausschüsse haben sich parallel zum Prozess mit dem Skandal befasst. Zurzeit arbeiten immer noch vier – außer den zwei genannten noch in Thüringen und Sachsen –, in Mecklenburg-Vorpommern nimmt ein weiterer seine Arbeit auf, in Hamburg wird einer gefordert. In Bayern, wo fünf der zehn Morde geschahen, wird ein zweiter kaum noch zu verhindern sein. Dass nicht alle Ausschüsse und alle Abgeordneten gleich interessiert an der Aufklärung sind, dokumentiert das Politische hinter dem Kriminellen im NSU-Komplex.

Mit dem absehbaren Ende des Prozesses und trotz eingetretener Ermüdung auf verschiedenen Seiten wird die Aufarbeitung noch lange nicht vorbei sein. Streng genommen auch strafrechtlich nicht. Nach wie vor führt der Generalbundesanwalt Ermittlungsverfahren gegen neun Beschuldigte. Unter ihnen befindet sich mindestens eine frühere V-Person. Ob der nötige NSU-Prozess 2.0 kommt, ist ungewiss. Anklagen wurden bisher keine formuliert.

Eine solche Situation anhaltender politischer Aufwühlung wie nach sechseinhalb Jahren NSU-Komplex hat es in der Geschichte der Bundesrepublik bis dato nicht gegeben. Das liegt ganz entscheidend daran, dass die Organe, die den gesetzlichen Auftrag haben, Verbrechen aufzuklären, die Aufklärung verweigern. Damit sind Rechtsstaat und Demokratie in diesem Land grundsätzlich betroffen und bedroht.

Im Untersuchungsausschuss in Potsdam erklärte jüngst ein Verfassungsschützer, das Handeln der Sicherheitsbehörden im Falle NSU sei „eine Schande“ gewesen. Dann fügte er einen Satz an, der die Tür weit aufstößt: „Das werden Sie auch bei Amri erleben!“ Tatsächlich zeichnen sich beim Terroranschlag im Dezember 2016 auf dem Breitscheidplatz in Berlin ähnliche strukturelle Hintergründe ab wie im Fall NSU.

Thomas Moser ist Mitautor des von Andreas Förster herausgegebenen Buches Geheimsache NSU. Zehn Morde, von Aufklärung keine Spur

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