Staatsakt Unser Wissen über Schrift und Sprache folgt unbewussten Regeln, nicht expliziten Normen. Die Rechtschreibreform stört dieses Gleichgewicht. Genau deshalb wird sie zu einer solch leidenschaftlichen Gefühlssache
Am 3. Juni soll der Rat der deutschen Rechtschreibung der Kultusministerkonferenz (KMK) Vorschläge darüber vorlegen, in welcher Art das amtliche Regelwerk zur Rechtschreibung noch einmal korrigiert werden soll. Die Zeit drängt, denn mit Beginn des neuen Schuljahrs soll das amtliche Regelwerk als alleinige Grundlage für schulische Entscheidungen über Richtig und Falsch in Kraft treten. Weil es sich dabei um eine zwischenstaatliche Vereinbarung handelt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass die KMK im Alleingang diesen Termin verschiebt, nicht besonders hoch. Es könnte sogar politisch einfacher sein, den gesamten Inhalt auszutauschen, als die Termin-Vereinbarung als solche aufzuheben.
Wenn nun der Rat für Rechtschreibung ein Befriedungsangebot vorlegt, so handelt
so handelt er gewiss in der Hoffnung, dass sich nach dem 1. August nicht nur Schüler und Schulbuchverlage einer reformierten Schreibung aus bloßem Zwang befleißigen, sondern sich auch öffentlich schreibende Erwachsene und Verlage diesem Kompromiss - und sei es nur aus Höflichkeit - anschließen. Denn womit die Akteure und Apologeten der Staatsaktion "Rechtschreibreform" seltsamerweise nie gerechnet haben, lässt sich alltäglich beobachten: dass der Gegenstand ihrer Bemühungen - die Schreibung - den Schreibern und Lesern ausgesprochen nahe geht. Dieses Phänomen nur derart zu deuten, dass sich hier "die Akteure" des Reformstreits "in dogmatischer Selbsterhitzung in ihre normativen Vorgaben verbissen" hätten, wie Michael Braun vor kurzem im Freitag (vom 22. 4. 2005) schrieb, unterschlägt das hohe Maß an Identifikation, mit dem wir sprachliche Zeichen benutzen.Hier allerdings liegt auch der Hase im Reformpfeffer, denn ein sprachlicher Gegenstand hat seine Tücken, denen man auch mit einer "kollektiven Entscheidungsfindung", wie Braun hofft, nicht ohne weiteres zu Leibe rücken kann. Hinter dem Gegensatz zwischen der staatlichen "Reglementierung der Schriftnorm" und "der Gewohnheit der Sprachgemeinschaft" verbirgt sich in der Tat die eigentliche Crux. Die Sprachgemeinschaft muss ja ihre "Gewohnheit" aufgeben. Und genau da beginnen die Probleme.Es sind die vergleichsweise gut ausgebildeten Schreiber und Leser, die so eine Art leitende Sprachgemeinschaft in der größeren Gemeinschaft der Deutschsprecher bilden. Hätte man vor der Reform einen aus diesen Reihen darum gebeten, eine Schreibregel zu benennen, so hätte man die zögerliche Antwort erhalten: "Substantive schreibt man groß." Der Hinweis auf die Richtliniensammlung, die den Duden einleitete, hätte die meisten verblüfft. Wenn sie nachschlugen, benutzten sie üblicherweise nur den Wörterbuchteil. Heute scheinen gerade diese Benutzer Rechtschreibung nicht mehr für ein geläufiges Kulturgut, sondern für eine Organisation von Regelungsbeständen zu halten. Es ist ihnen peinlich, lediglich "intuitiv" oder "nach Gefühl" schreiben zu können: sie negieren ihr bisheriges Schreibvermögen.Auf gut linguistisch kann man das Phänomen so beschreiben: implizite Regeln haben bislang, ohne das Bewusstsein allzusehr zu belästigen, das Schreibhandeln gebildeter Erwachsener gesteuert. Bei Zweifeln griffen Schreiber punktuell auf explizite Regeln zu. Das sind Regelformulierungen, zum einen die Wörterbucheinträge und zum anderen die allgemeinen Richtlinien im alten Duden. Das Geheimnis der alten "Norm" bestand darin, dass diese Formulierungen sowohl beschreibend als auch normierend waren, lediglich Hinweise auf etwas abwesend Anwesendes, nämlich auf ein System, das sich uns gewöhnlich entzieht, obwohl wir uns nach ihm richten. Regelformulierungen sind in diesem alten Schreibkosmos nur Annäherungen, sie sind niemals identisch mit den - impliziten - Regeln des Systems, das als Norm wirkt.Wenn man Regelformulierungen allerdings die Last auferlegt, überhaupt erst Regeln hervorzubringen oder gar identisch mit Regeln zu sein - was der Sinn einer jeden Rechtschreibreform ist -, muss man mit seltsamen Effekten rechnen. Diese Regelformulierungen müssen nämlich durch eine Vielzahl von Schreibern zu impliziten Regeln werden, implizit im einzelnen Schreiber, implizit auch in einem System, das sich unserem willkürlichen Zugriff entzieht. Je umfangreicher nun die Regelformulierungen ausfallen, umso mehr Austauschraum werden sie im impliziten Regelapparat für sich beanspruchen.Weil die neue amtliche Regelung nun aber die gesamte alte Richtliniensammlung ersetzen will, beginnen die Schreiber auch vollständig, an ihrem impliziten Regelapparat zu zweifeln. Nichts ist mehr sicher, nicht einmal das, was keinerlei Veränderung erfahren hat. Alle Regelformulierungen werden gleich wichtig, Lehrer und Lehrmaterialien kleben an den offiziellen Regelformulierungen. Und die Schreiber zerfallen - nach Maßgabe ihres äußeren Zwangs - in drei Gruppen: die Entnervten, die sich derartige Demütigung nicht gefallen lassen wollen, die Apologeten, die begierig nach Neuerungen suchen, und die indifferent Verstörten, die bemerken, wie wenig sie eigentlich bisher über ihre Schreibgewohnheiten wussten. Letztere dürften überwiegen und irgendwie neu schreiben, wenn sie glauben, jemand - der Chef, der Auftraggeber, eine Behörde, die Prüfungskommission - erwarte dergleichen von ihnen. Mit Kulturkonservatismus, wie Braun vermutete, hat diese Verstörtheit vielleicht noch in der FAZ-Redaktion zu tun. Außerhalb dieses Raums zerren die Regelformulierungen an den Schreibern wie böse kleine Tiere, ob sich einer nun zum Gehorsam entschließt oder nicht. Dass dabei jede Menge Emotion freigesetzt wird, lässt sich noch immer beobachten, jeden Tag, und nicht nur auf Professor Icklers Rechtschreibseiten oder in Brauns Polemik.Erstaunlich viele Gefühle, Ideen und Hoffnungen werden mit dieser Reform verknüpft. Das reicht von beinahe kindlicher Euphorie, was denn nun alles Tolles möglich sei, als hätte man sich vorher in einer Art Schreibknechtschaft befunden, bis zum Gefühl der Nötigung. Eine Idee, von der ich immer wieder verblüfft höre, lautet ungefähr folgendermaßen: es sei doch unbedingt begrüßenswert, dass endlich einmal Sprache und Schreibung und deren Regeln in der breiten Öffentlichkeit als Themen ernst genommen würden. Natürlich freue ich mich als sprachwissenschaftlich Infizierte, wenn ich höre, wie erwachsene Menschen "Substantive", "Zusammensetzungen" und andere grammatisch klingenden Begriffe in den Mund nehmen, aber zugleich erfasst mich eine Unruhe über die tiefe Verunsicherung, von der dieser Diskurs zeugt. Könnte es sein, dass sie beginnen, genauer nachzulesen und sich ins Detail zu verstricken? Dass sie - wie bei der Reform ausdrücklich gewünscht - versuchen, eine Regelformulierung der "amtlichen Regelung" auf den konkreten Einzelfall anzuwenden, den sie so natürlich nicht im Wörterbuch finden können, und plötzlich "Pflegeheim-ähnlich" schreiben ...?Um nicht missverstanden zu werden: wesentlich ist nicht, dass "Pflegeheim-ähnlich" falsch ist (es widerspricht sowohl alter Konvention als auch neuer Wunschregel), es geht nur darum, über unintendierte Nebenwirkungen nachzudenken, die eintreten müssen, wenn sich eine Sprachpflege der Neuerung eines einigermaßen funktionierenden Zeichensystems widmet.Ich habe oben zu bedenken gegeben, dass Regelformulierungen nie deckungsgleich mit impliziten Regeln sein können. Individuell verfügen wir über diese impliziten Regeln, wir haben ein Regelwissen, das sich aber hauptsächlich im Sprach- und Schreibkönnen ausdrückt, dagegen nicht im Kennen expliziter Regeln. Die Schreibregeln sind mit unseren sonstigen impliziten Sprachregeln verknüpft. All diese Regeln erwerben wir durch Analogiebildung. Das ist übrigens einer der Gründe, weshalb es so lange dauert, bis wir zu einem souveränen Umgang mit der Schreibung gelangen - etwa 10 bis 20 Jahre - und am Ende kaum einen grammatischen Begriff korrekt benutzen können. Wir erwerben nach und nach ein Können, dem zunehmend strukturiertes, aber implizites Wissen zugrundeliegt. Was geschieht jedoch mit einem reformwilligen Sprachteilnehmer, der nicht nur in 112 scheinbar gleichwertigen Paragraphen mit "amtlichen Regeln" konfrontiert ist, aus denen er angeblich alle Schreibungen ableiten kann, sondern dem daneben suggeriert wird, sein bisheriges implizites Regelwissen sei wertlos, alles, was über die Regeln zu wissen sei, stehe in diesem Konvolut, weil diese Formulierungen identisch mit den Regeln seien? Er wird von seiner Gewohnheit möglichst absehen und einzelne Paragraphen interpretieren, auf der Suche nach Vorbildern für seine eigene Analogiebildung, mit hoher Wahrscheinlichkeit ohne zu ahnen, wo überall etwas zu seinem Schreibproblem steht. Daneben aber wird sein implizites Sprachwissen unaufhaltsam weiterarbeiten, während es offiziell nicht existieren darf und von diesem Sprachteilnehmer zunehmend als Störfaktor missachtet wird.Die Auswirkungen können vielfältig sein. Weil Sprachbenutzer laufend implizit vorhandene Regelmodelle anwenden, und zwar nicht durch gehorsame Ableitung aus Regelformulierungen, sondern durch Analogiebildung nach vorhandenen schriftsprachlichen Vorbildern - wie im amtlichen Regelwerk - kommen dabei auch Schreibprodukte heraus, die nicht mit den Absichten des Regelwerks konform sind, ihnen gar entgegenstehen. Um ganz deutlich zu sein: unter dieser Perspektive handelt es sich dabei nicht um Missverständnisse im Sinne von Fehlern. Es sind völlig normale Rekonstruktionsdynamiken, die einsetzen, sobald sprachliche Regeln zum Thema erhoben werden.Ich bitte nun um ein wenig Nachsicht und Neugier, wenn ich diese Überlegung an dem Beispiel von oben erkläre und dabei einige grammatische Begriffe benutze: "eine Pflegeheim-ähnliche Einrichtung". Die Adjektivschreibung widerspricht ganz elementaren Sprachschreibregeln im Deutschen; bei einer Komposition wie dieser übernimmt nämlich das entstehende Wort die Wortart des letzten Wortteils, hier ein Adjektiv, "ähnlich". Komposita werden wie einfache oder abgleitete Wörter schlicht als Buchstabenwürmer geschrieben, also: "pflegeheimähnlich". Gebildet ist das Beispiel oben aber analog zu einer Notfallschreibung mit Bindestrich aus dem Regelwerk: "Napoleon-freundlich" - neben schlichtem "napoleonfreundlich" nach der zentralen Regel. Dieser Notfall ist aber nur eine Rückfolgerung aus einem echten Notfall mit Eigennamen, Typ "Fidel-Castro-freundlich". Letzteres war schon in den Richtlinien des alten Duden zu finden, ersteres kam im amtlichen Regelwerk hinzu. Die Adjektivschreibung "Pflegeheim-ähnlich" ist daran gemessen zwar eine unzulässige Verallgemeinerung auf zweiteilige Komposita von Substantiv und Adjektiv (statt der Beschränkung auf Eigennamen plus Adjektiv), scheint aber als implizite Regel bereits eine gewisse Verbreitung gefunden zu haben.Das Angebot dieser impliziten Regel ist von der Umstellung auf eine "amtliche Regelung" bloß veranlasst, ohne von ihr materiell begründet zu sein. Was sich hier allerdings durch unsere permanente Analogietätigkeit entwickelt, steht in einem fatalen Spannungsverhältnis zu hierarchisch höheren impliziten Regeln, die die Schreibung von Komposita in Analogie von einfachen Wörtern steuern.Wenn nun die peripheren Bereiche permanent - zum Beispiel bei einer Rechtschreibreform oder im Schulunterricht - "zum Thema" erhoben werden, können solche randständigen impliziten Regeln im individuellen Hierarchiegefüge aufsteigen und schon nach kurzer Zeit zu einer Schwächung im Kernbereich des Schreibsystems führen.Genau in diesem Problem dürfte auch die Ursache zu suchen sein, weshalb sich der Rat für Rechtschreibung noch einmal die so genannte Zusammen- und Getrenntschreibung vorgenommen hat. Ob etwas ein Wort ist - und deshalb ein Buchstabenwurm, siehe oben - oder mehrere Wörter, dafür sind allgemeine grammatische Regeln zuständig, nämlich Wortbildungs- und Satzbauregeln. Hier detaillierte allgemeine Schreibregeln zu formulieren, muss zu Nebenwirkungen führen. Wenn man beispielsweise bei bestimmten Verbkompositionen den Buchstabenwurm verbietet - so beim schönen Verb "kurztreten", nachreformerisch "kurz treten" -, dann greift eine nur als Schreibregel gedachte Formulierung in die Grammatik und damit in eine zentrale Stelle des Sprachsystems ein. Die orthographische Konferenz von 1901 hat hier bei der Zusammen- und Getrenntschreibung keine "ungelöste Frage" gelassen, wie Braun kürzlich meinte, sie hatte nur keine Veranlassung, eine solche Frage auf dem Feld der Schreibung aufzuwerfen.Nun hatten selbstverständlich die Autoren unseres heutigen amtlichen Regelwerkes nicht im Sinn, systemwidrige Wirkungen auf die Schriftsprache zu erzielen, im Gegenteil, sie beabsichtigten, die Schreibung konsequenter und einfacher handhabbar zu gestalten. Demiurgenphantasien am ungeeigneten Gegenstand verwirklichen zu wollen, kann allerdings ungeahnte Folgen nach sich ziehen. Wer more geometrico in ein empfindliches sprachliches Netz aus Zentren und Peripherien eingreift, braucht sich nicht zu wundern, wenn nach der Reform vor der Reform ist.Ursula Enderle ist Linguistin. Von ihr erschien kürzlich Autonomie der geschriebenen Sprache? Zur Theorie phonographischer Beschreibungskategorien am Beispiel des Deutschen. Erich Schmidt Verlag, Berlin 2005.
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