Das Frühstück blieb den Polen Ende Januar bei der morgendlichen Zeitungslektüre im Halse stecken, als die renommierte Gazety Wyborcza einen unglaublichen Skandal im Gesundheitswesen enthüllte. Ambulanzen, Sanitäter und Notärzte hatten mit Bestattungsunternehmern in Polens zweitgrößter Stadt Lodz eine schwunghaften Handel aufgezogen, bis zu 500 Zloty pro Leiche zahlten dort die Totengräber für den frühen Hinweis auf einen eingetretenen Todesfall. Stellten die Retter ein Ableben des Patienten noch in dessen Wohnung fest, riefen Sanitäter oder Ärzte wo möglich selbst das "Vertragsunternehmen" an, sonst hinterließen sie den verstörten Angehörigen Visitenkarten mit dem eindringlichen Hinweis, nur diese Firma d&
e Firma dürfe die Leiche abtransportieren. Aber nicht allein diese makabren Praktiken eines korrupten Medizinapparates deckte Gazety Wyborcza auf. Die Recherchen des Blattes ließen schnell erkennen, dass der obszöne Leichenhandel nicht auf Lodz und Umgebung beschränkt blieb, sondern auch an anderen Orten florierte. Dabei erwiesen sich Erschütterung und Grauen durchaus noch als steigerungsfähig, denn landesweit ausgelöste Untersuchungen ließen bald auch Mordvorwürfe laut werden. Um todsicher in den Genuss der Prämie zu kommen, sollen Rettungsdienste mehr getan haben, als nur Auskünfte über Todesfälle zu verkaufen. Wurde ein Patient auch nach langer Wartezeit und mehrmaligen verzweifelten Anrufen der Angehörigen immer noch lebend angetroffen und in den Krankenwagen geladen, fuhr man zuweilen Umwege oder unterbrach die Fahrt auch schon einmal zur Zeitungslektüre. Hielt der Todkranke wider Erwarten stand, soll dann auch aktiv nachgeholfen worden sein. Mit dem Medikament Pavulon - ein dem Pfeilgift Curare ähnliches Narkosemittel -, das zur Lähmung der Atemmuskulatur führt, soll in Lodz dem Tod auf die Sprünge geholfen worden sein. Nur in sechs der sechzehn polnischen Wojewodschaften wird Pavulon überhaupt verwendet, in Lodz sei mit 244 Ampullen der Verbrauch besonders für Rettungsteams exorbitant hoch gewesen, lauten die Vorwürfe. Unwiderlegbar bewiesen ist dieser Tatbestand bis heute nicht, auch wurde noch keine Mordanklage erhoben, aber ein Anfangsverdacht besteht, die Lodzer Staatsanwaltschaft ermittelt fieberhaft Die Nation wähnt sich in einem Horrorfilm nach Orwellscher Vorlage: Bei Notruf Mord oder Die Häute von Lodz, wie es die Schlagzeilen heraus schrieen. Mitwirkende: Korrupte Ärzte, Todesengel im Rettungswagen, Medikament aus dem Giftschrank. Trost sollte der sofort kolportierte Erklärungsversuch spenden, das viele Pavulon sei von den Rettern "nur" gestohlen und mit großer Sicherheit auf dem Schwarzmarkt versilbert worden. "Korruption im Gesundheitswesen ist bei uns wahrlich nicht neu, bevor ein Arzt mit der Behandlung anfängt, oder die Schwestern einen Finger rühren, kann es schon sein, dass du erst einmal Lapowka (Schmiergeld - d. R.) geben musst", erklärt mir Anna Wysocka, eine Mittfünfzigerin aus dem polnischen Nordosten. "Als meine Mutter mit einem Schlaganfall ins Krankenhaus kam, mussten wir als Erstes Bettwäsche bringen, das Essen haben wir selbst gekocht und unsere halb gelähmte Mutter gefüttert, auch gewaschen haben wir sie selbst. Dann bin ich gelaufen und habe überall Päckchen mit Kaffee platziert. Später gab es immer wieder etwas zu bezahlen, einmal für bessere Behandlung, dann wieder für Medikamente. Können Sie sich vorstellen, wie es Menschen geht, die keine Angehörigen haben?" Auf meine Frage, wie es weitergegangen sei, wird sie einsilbig. "Erst kam sie aus der Wojewodschaftshauptstadt in unser Hospital. Es ging ihr besser, sie sollte nach Hause kommen, plötzlich ging es wieder schlechter und sie starb." - Nein, diesen Tod mit dem Leichenhandel in Verbindung zu bringen, daran will sie nicht einmal denken, aber Korruption im Gesundheits- und Sozialwesen, die könne sie bestätigen, ohne Sonderzahlungen oder Geschenke gehe nur wenig, denn sie habe lange genug bei der Sozialversicherung gearbeitet. Die Reaktionen von Regierungsseite auf den Medizinskandal tragen nicht eben zur Beruhigung bei. Am schnellsten hat wohl Präsident Aleksander Kwasniewski die Dimension des Unheils erkannt und Premier Leszek Miller alarmiert. "Sollten sich die Vorwürfe bewahrhein, dann ist das kein Verbrechen, sondern eine Entartung, ein Bruch aller ethischen und menschlichen Prinzipien", so Kwasniewski. Gesundheitsminister Mariusz Lapinski wiegelt nach einem Treffen mit Rettungsdiensten zunächst ab. Lodz sei ein Einzelfall, der Leichenhandel eine perverse Randerscheinung. Dabei hat die parteilose Justizministerin Barbara Piwnik im Wissen um die Ermittlungen von Lodzer Staatsanwälten schon eingeräumt, dass es ähnliche Fälle auch in anderen Städten gäbe. In Gdansk, Rzeszow, Bielsk Podlaski und Olsztyn laufen die Untersuchungen. Wie erregt die Behörden sind, lässt sich der Tatsache entnehmen, dass ein Krisenstab existiert, der eine Durchleuchtung von 5.000 Todesfällen und die Anhörung von mindestens 2.500 Zeugen für unumgänglich hält. Auch Exhumierungen seien geplant, es gehe schließlich um einen Zeitraum von zehn Jahren.Gazeta Wyborcza hat zweifellos eine Lawine ausgelöst, obwohl die zwielichtigen Geschäftspraktiken von Bestattungsfirmen unter der Hand längst bekannt waren. In vielen Regionen wussten Lokalpolitiker seit Jahren von Geschäften zwischen Rettungsdiensten und Bestattungsfirmen, ohne auch nur das Geringste dagegen zu unternehmen. In Olsztyn sahen je zwei Wojewoden und zwei Oberbürgermeister in Folge tatenlos zu. Dort gehören die einschlägigen Firmen zwischenzeitlich ausnahmslos ehemaligen oder Noch-Mitarbeitern des Rettungswesens, darunter Ärzte und Krankenschwestern oder deren Ehepartner. Noch aktive Rettungssanitäter finden in diesem Netzwerk mühelos einträgliche Zweitjobs. Korruption heißt das große Problem in Polen, längst gelten Ärzte unberechtigterweise grundsätzlich als korrupt. Jedermann kennt die "Honorare": angefangen von 100 Zloty für die "Urlaubsschein" genannte Krankschreibung bis zum Mehrfachen für ein Attest, das vom Militärdienst befreit. Bagatellen gibt es für eine Flasche Cognac. Doch Korruption hat Gründe - als wahre Geißel muss die halbherzige und chaotische Gesundheitsreform bewältigt werden, die das Land der Mitte-Rechts-Regierung (1997 bis 2001) des Premiers Buzek verdankt. Im Zuge "marktwirtschaftlicher Vorgaben" entstanden Regionale Krankenkassen, pro Wojewodschaft eine. Zuständig für die Krankenhäuser waren nun Wojewodschaften, Kreise und Städte, ohne finanziell dazu wirklich in der Lage zu sein. So entstanden angesichts des darbenden Standards neben den staatlichen Hospitälern Privatkliniken und in Konkurrenz zu den öffentlichen Polikliniken private Gemeinschaftspraxen - der Eintritt in die Zwei-Klassen-Medizin, denn die Gehälter im staatlich alimentierten Gesundheitsdienst sind dürftig - der Korruption öffneten sich die Türen sperrangelweit. Inzwischen stehen einige Regionalkassen am Rande des Bankrotts, zwei reiche können trotz Finanzausgleich nicht 14 marode über Wasser halten. Die vorgesehenen privaten Kassen, die zum Finanzausgleich beitragen könnten, gibt es immer noch nicht. Nun steht die Reform der Reform an, und damit schreckt Gesundheitsminister Lapinski das Volk nochmals auf. Salto rückwärts heißt das Motto, Liquidation der Krankenkassen und Einziehung des Vermögens sowie Aufbau neuer zentralistischer Strukturen. Der Staat will wieder die völlige Kontrolle übernehmen über alle Patienten und alle Gesundheitsausgaben. Das garantiere eine flächendeckend gerechte Fürsorge, ist Lapinski überzeugt. Kritiker - und das sind derzeit die meisten Polen - sehen das ganz anders. Die Rosskur, die Lapinski verschreibe, sei schlimmer als die Krankheit an der alle zu leiden hätten, glaubt die Warschauer Medizinökonomin Katarzyna Tymowska. Mit dem Teufel solle da der Belzebub ausgetrieben werden, meint auch Anna Wysocka, damit würde allen Regierungskritikern Recht gegeben, die behaupteten, die postkommunistische Regierungspartei der SLD (*) habe nur Kreide gefressen, nun schimmere wieder das alte Gespenst des Kommunismus durch den Schafspelz. Sarkastisch fügt Anna Wysocka an, sie wisse ja nun um den guten Rat der Zeitungen, falls noch einmal ein Angehöriger ins Hospital müsse: Witold Skrzydlewski, ein Lodzer Bestattungsunternehmer, habe empfohlen, wer seinen Angehörigen helfen wolle, solle einer Rettungsequipe 2.000 Zloty anbieten - das sei dann mehr, als eine Firma wie die seine gewöhnlich "für einen guten Tipp" zu zahlen bereits sei. (*) Allianz der Demokratischen Linken
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