Zum Auftakt des Prozesses hatte sich Lothar König ein Paar Socken mitgebracht. Die Geste sollte Respekt vor dem Dresdner Amtsgericht ausdrücken, den er auch bei seiner Erwiderung auf die Anklage mehrfach bekundete. Denn die franziskanische Gepflogenheit, barfuß in Sandalen durch eine raue Welt zu schreiten, gehört sonst zu den Markenzeichen dieses so gar nicht gutbürgerlichen Pastors. Spätestens seit der Anklageerhebung gegen ihn ist dieser Typ, den schon die DDR-Staatssicherheit observierte, weit über Jena hinaus bekannt geworden. Ein wallender grauer Bart umrahmt das permanent hinter dem Rauch einer selbst gedrehten Zigarette getarnte rundliche Gesicht. Aber das gelegentliche Blitzen der Augen oder sein verschmitztes Lächeln durchdringen auch diese
esen Vorhang.Dieser Mann also, der das Evangelium auf seine Weise sehr ernst nimmt, soll am 19. Februar 2011 extra nach Dresden gefahren sein, „um das zerstörerische Werk der alliierten Bomberflotte zu Ende zu bringen und die sächsische Kulturstadt in Schutt und Asche zu legen“. Mit diesen Worten parodiert ein in Jena kursierender fingierter Fahndungsaufruf die Anklage. Die 18 Seiten von Staatsanwältin Ute Schmerler-Kreuzer erwecken tatsächlich den Eindruck, dass ihre Behörde sich für die zweifellos verurteilenswerten Krawalle am Rande der damaligen Anti-Nazi-Demos an den bekannteren Demonstranten schadlos halten wolle. Bislang sind nur zwei Personen verurteilt worden, ein Steinewerfer und zuletzt ein Rechter zu 20 Monaten auf Bewährung.Lothar König aber drohen rund zehn Jahre Knast, würde das Strafmaß für schweren Landfriedensbruch, versuchte Strafvereitelung und Nötigung und Beihilfe zum Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte ausgeschöpft. Von seinem legendären blauen VW-Bus mit den aufmontierten Lautsprechern aus soll er die gewaltbereite Menge, die einen Nazi-Marsch unbedingt verhindern wollte, aufgewiegelt haben. Schon das Abspielen von „Musik mit aggressivem, anheizendem Rhythmus“ – die Staatsanwältin erkannte die Rolling Stones offenbar nicht – gehört nach über 40 Jahren immer noch zu den Verbrechen gegen die öffentliche Ordnung.Das Anliegen des immerhin schon 59-jährigen Stadtjugendpfarrers in Jena versteht man besser bei einem Besuch im Domizil seiner Gemeinde. Hier fielen im August 2011 sächsische Polizisten ein und durchsuchten die Räume wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung. Ein Vorgang, der auch in der Thüringer Landesregierung zumindest für Stirnrunzeln sorgte. Was für ein verdächtiges Milieu aber auch! Das Vorder- und Hinterhaus auf der Johannisstraße haben die Jugendlichen selbst renoviert. An den Wänden des Durchgangs leuchten Graffitis und gemeingefährliche Gedichte wie eine Psalminterpretation des Befreiungstheologen Ernesto Cardenal. Im Hof stehen Plastiken und skurrile Fahrradskulpturen. Und die Getränkeliste im Café des Hinterhauses ist gewiss für den Verfassungsschutz relevant.König in diesem Widerstandsnest ist eben der Lothar König. Die Jugendlichen, die hier ein zweites Zuhause haben, begleitet er auch zu Demonstrationen in Gorleben oder Dresden. Muss er sich deshalb gleich ins Getümmel, sozusagen an die Front begeben? Lothar König räumt ein, dort in einer „Grauzone“ zu handeln. „Wie weit gehen Seelsorgerecht und Seelsorgepflicht?“, sinniert er im Gespräch. Der Mann kann Regie führen und organisieren, aber er ist ein weit sensiblerer und nachdenklicherer Mensch, als ihn die Staatsanwaltschaft hinzustellen versucht. Die hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihn als Beschuldigten zu vernehmen und dabei vielleicht sogar ein bisschen kennen zu lernen.Deshalb gehen ihm Unterstellungen wirklich nahe, er sei extra als Krawalltourist nach Dresden gefahren, um „die Bullen mit Steinen einzudecken“. Diese Aufforderung soll angeblich über seinen Lautsprecher gegangen sein. „Ich rufe nicht einmal dazu auf, Nazis anzugreifen. Kein Mensch soll angegriffen werden, das ist Grundvoraussetzung meiner Arbeit und meines jüdisch-christlichen Glaubens“, erklärt er und wiederholt es sinngemäß vor Gericht.Dort, am ersten Verhandlungstag im größten Saal, den das benachbarte Landgericht aufbieten kann, weiß man nicht, was den stärkeren Eindruck hinterlässt: Königs ebenso ehrliche wie leidenschaftliche Erklärung oder die rhetorische Brillanz, mit der sein Berliner Verteidiger „Johnny“ Eisenberg die Anklage zerpflückt. Da kann es verfassungsrechtlich gar keine Aufenthaltsverbotszone gegeben haben, da werden aus angeblichen Durchbruchsattacken Rückzugsaufforderungen, da erweist sich die angebliche Nötigung eines Polizeifahrzeugs als Ausweichmanöver Königs, um einen plötzlich querenden Demonstranten nicht zu gefährden. Und bei der vorgeblichen Fluchthilfe für einen aufspringenden Steinewerfer bewegt sich sein Auto so langsam, dass Polizisten in schwerer Schutzausrüstung diesen mühelos aus dem Wagen ziehen konnten.Ein Geruch von Gesinnungsjustiz wehte an diesem ersten Verhandlungstag durch den Saal. Der Angeklagte appellierte an die Verantwortung des Schöffengerichts unter Vorsitz von Richter Ulrich Stein. Denn von diesem Prozess gehe ein Signal aus, „wie wir miteinander umgehen wollen“, ob man in diesem Land nur noch „indifferente Fernsehglotzer“ wolle. Es sei ihm darum gegangen, Protestierern Mut zu geben und Verbündete zu gewinnen „gegen den Skandal, der sich mitten unter uns ausbreitet“. Nur Insider wissen, dass die Narbe an Königs Stirn von einer Nazi-Attacke stammt. Bis zum 20. Juni hat das Gericht an insgesamt sieben Verhandlungstagen noch Zeit, darauf eine Antwort zu finden.