Beklemmende Komplizenschaft

Kino Arnon Goldfinger stößt in seinem Dokumentarfilm "Die Wohnung" auf einen böhmischen Adeligen, der zugleich in der SS und glühender Zionist war
Kurt Tuchler, der Zionist, und Baron von Mildenstein, den SS-Mann, verband mehr als Brieffreundschaft
Kurt Tuchler, der Zionist, und Baron von Mildenstein, den SS-Mann, verband mehr als Brieffreundschaft

Foto: Edition Salzgeber

Die Tyrannei der Gegenwart wirkt mächtig. Alles hier kann entsorgt werden, verfügt die Tochter der Verstorbenen. Die Wertlosigkeit des Hausstands ist der Endreim jeder Diskussion. 60 Müllsäcke werden pro Tag aus dem Haus geschafft, trotzdem zieht sich die Wohnungsauflösung hin. Die Überreste eines Lebens, das fast ein Jahrhundert gedauert hat, verlangen nach pietätvollem Zögern. Der Nachlass Gerda Tuchlers leistet Widerstand. Für ihre Nachfahren hält er manchen Schock bereit; angefangen bei der heute kurios anmutenden Fuchsstola. Die Bewohnerin war überaus wohlhabend.

Ihre Wohnung in Tel Aviv ist das Museum eines Lebens in Berlin, das sie und ihr Mann vor 70 Jahren hinter sich lassen mussten. Ihr Leben war auch reich an Geschichten, zu denen bislang niemand Fragen gestellt hat. Unverhofft erhält die Vergangenheit nun Zutritt zum Leben der Familie, denn bei der Durchsicht der Fotoalben und Korrespondenz stoßen die Tochter und ihr Sohn, der Dokumentarfilmer Arnon Goldfinger, auf etwas Unerhörtes: Gerda und Kurt Tuchler waren jahrzehntelang eng mit einem SS-Offizier befreundet. 1933 unternahmen sie mit dem als „Nazi-Tourist“ bekannten Baron von Mildenstein und mit dessen Frau eine Reise durch Palästina. Sie diente Propagandazwecken.

Falsches Bild eines guten Deutschen

Offenbar war der böhmische Adlige, der zeitig der Partei und der SS beigetreten war, ein glühender Zionist, der Hebräisch lernte und eine vergleichsweise friedliche Lösung der Judenfrage anstrebte: Die Artikelserie, die er über seine Reise veröffentlichte, sollte deutsche Juden zur Ausreise animieren. Mildensteins Tochter, die Goldfinger in Wuppertal ausfindig macht, hält das Bild des guten Deutschen nach Kräften aufrecht. Sie wirkt weltoffen und ist von einnehmendem Temperament; sie weiß mehr über das Leben der Tuchlers als deren eigene Familie.

Bei seinen Recherchen legt Goldfinger immer neue Schichten von Fakten und Unstimmigkeiten frei. Der Baron war keineswegs nur ein Journalist, der in Ungnade fiel und das Ende des Dritten Reichs in den USA abwartete. Vielmehr war er ein Förderer Eichmanns und bekleidete später ein hohes Amt in Goebbels’ Propagandaministerium. Seine Tochter zeigt sich unbeeindruckt vom akribischen Aktenstudium des Filmemachers; sie will nicht wahrhaben, dass ihr Vater ein Bescholtener war.

Höfliche Beharrlichkeit statt Rechthaberei

Nach dem Krieg machte er eine Karriere, die ohne Makel scheint, war FDP-Mitglied und Chef der deutschen Coca-Cola-Repräsentanz. Womöglich stand er zeitweilig im Dienst der CIA; gegen Gerüchte, er habe die Nasser-Regierung beraten, konnte er sich erfolgreich zur Wehr setzen. Die Verdrängungsleistung der Tuchler-Familie indes war nicht minder monströs. Heruntergelassene Jalousien sind ein diskretes Leitmotiv in Goldfingers Film.

Ohnehin betreibt der Filmemacher seine Nachforschungen nicht aus auftrumpfender Rechthaberei, sondern mit höflicher Beharrlichkeit. Er bringt, schon aus eigener Familientradition, Empathie mit für Kleinmut und auch Scham. Er ahnt, dass sich das Geheimnis dieser beklemmenden Komplizenschaft nicht bezwingen lässt: Wie viele ungestellte Fragen und zuvorkommende Lügen waren nötig, damit sich nach dem Krieg diese Freundschaft aufrechterhalten ließ? Die Vergeblichkeit der Frage entmutigt ihn nicht. Wenn man sich die Urlaubsfotos genau anschaut, entdeckt man, dass Frau Mildenstein dem Blick der Kamera stets ausweicht.

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