"Totgesagte leben länger", könnte man meinen, wenn man die politische Auferstehung des Nationalismus in Serbien betrachtet.
Stimmt das Kalkül der selbsternannten "patriotischen" Parteien in Serbien, hat die räumliche Entfernung zwischen den drei mutmaßlichen Kriegsverbrechern und ihrem ehemaligen Wahlvolk weder eine moralische noch politische Distanz zur Folge. Im Gegenteil: Es ist gerade verführerisch leicht, diese auf der Anklagebank des Haager Tribunals sitzenden Figuren vor den Verlierern der Post-Milosevic-Ära als Nationalhelden hoch zu stilisieren. Mit dem Spitzenkandidaten Milosevic, so die taktische Rechnung in Belgrad, könnte die Sozialistische Partei wieder wählbar werden für die desillusionierten und enttäuschten serbischen B
rbischen Bürger. Anderthalb Jahrzehnte diente sie als demokratisches Feigenblatt für Milosevics nackte Machtambitionen. Mit seiner Auslieferung ging sie fast unter, jetzt ergeht sie sich in Phönixträumen.Dass diese nationalistische Rechnung nicht aus der Luft gegriffen ist, zeigen die im vergangenen Monat gescheiterten Präsidentschaftswahlen. Die Partei des im holländischen Tribunalgefängnis sitzenden Ultranationalisten Seselj schickte Tomislav Nikolic als Spitzenkandidaten in diese Wahlen. Dieser fällt meist auf durch das automatische Nachplappern der großserbischen Parolen, die sein Boss Seselj seit zwei Jahrzehnten wie auf dem Fließband produziert. Trotz seiner Provinzialität und Profillosigkeit ging Nikolic aus den gescheiterten Wahlen als Sieger hervor. Der unterlegene Gegenkandidat war Dragoljub Micunovic, ein erfahrener, überzeugter Demokrat mit klarem europäischen Antlitz. Gegen Ende der Achtziger war er Gründer der Demokratischen Partei, die ihre Blütezeit unter dem serbischen Regierungschef Zoran Djindjic erlebte. Deshalb nannten ihn die Wahlpropagandisten "Vater der Demokratie". Gegen ihn setzte sich Nikolic durch, eine schlechte Kopie des Polit-Clowns Seselj. Wegen der unter 50 Prozent liegenden Beteiligung waren die Wahlen zwar ungültig, aber der Erfolg der Ultranationalisten zeitigt trotzdem Folgen. Es handelt sich um das gelungene politische Comeback derjenigen, aus deren Reihen sich höchstwahrscheinlich die Auftraggeber für die Ermordung Djindjics rekrutierten.Nach erprobtem Rezept gehen jetzt nicht auch die Parteien vor, die ihre Kraft seit jeher aus einem antiwestlichen Rausch schöpften. Sogar der Innenminister Mihajlovic, als Chef der kleinen Liberalen Partei, ließ auf Wahllisten unter seinem Namen auf Platz zwei den in Den Haag angeklagten und noch nicht ausgelieferten General Lazarevic aufstellen. Die populistische Antwort eines Ministers auf die chauvinistische Herausforderung zeigt nur, dass die Tribunalbeschimpfung in Serbien längst zu einem Volksport geworden ist. Die Botschaft für die Parlamentswahlen am 28. Dezember lautet: Unsere Helden in Den Haag bieten erfolgreich allen westlichen Prinzipien die Stirn.Eine solche Haltung dürfte für zwei Gruppen in Serbien attraktiv sein: Für die Verlierer, die keine Hoffnung mehr sehen, sich eine menschenwürdige Existenz aufzubauen. Die Schuld dafür schreiben sie einer zerstrittenen Regierung, aber auch der zögerlichen finanziellen Unterstützung des Westens zu. Neben dieser großen Bevölkerungsgruppe bleibt noch eine informelle, öffentlich unsichtbare, jedoch finanziell potente Schicht zu erwähnen: Kriegsprofiteure, Mafiosi und die Reste der Nomenklatura aus Milosevics Zeiten.Nach der Ermordung des charismatischen Ministerpräsidenten Djindjic hatte die serbische Polizei einige erfolgreiche Aktionen gegen Kriminelle durchgeführt. Es war aber falsch zu glauben, dass man danach wieder zur Tagesordnung übergehen könne. Die Risse in der von Djindjic solide gezimmerten Anti-Milosevic-Koalition, die auch nach der Machtübername den Sammelnamen "Demokratische Opposition Serbiens" behielt, waren bereits sichtbar, als der entmachtete Milosevic mit einem one-way-ticket nach Den Haag geschickt wurde. Das endgültige Auseinanderbröckeln des Vereins der erfolgreichen Bulldozer-Revoluzzer kam erst nach Djindjics Tod. Die Konsequenz: die fast allein regierende Demokratische Partei hatte kurzfristig den Tod des Premiers in Form einer vorübergehend steigenden Popularität kapitalisiert. Sie war jedoch nicht mehr in der Lage, langfristig den Magnetkern des serbischen Reformwillens zu bilden. Unter ihrer Regierungsverantwortung häuften sich Affären, bei denen es um Macht, Eitelkeit, Geld und um ein für die Polit-Szene typisches Schlammschlachtvergnügen ging. Djindjics Parteifreunde taten dann gelegentlich das, wogegen sie in der Milosevic-Ära entschlossen kämpften: die Fernsehübertragungen der parlamentarischen Debatten wurden abgeschafft, einige Rechte der Parlamentarier beschnitten. Die Begründung: die öffentliche Präsenz der Parteien des alten Regimes müsse begrenzt werden, das Parlament solle effizient arbeiten können.Jetzt, acht Monate nach Djindjic, kann diese Partei weder allein regieren noch ist sie willens mit irgendjemanden die Macht zu teilen. Ihre ehemaligen Koalitionspartner stiegen nacheinander aus und gingen auf Konfrontationskurs mit der Regierung. Kostunicas "gemäßigte Nationalisten" taten das noch während Djindjic am Leben war. Kostunica war von Anfang an ein Europäeer unter Vorbehalt und wenn es drauf ankommt ein vorbehaltloser Serbe, vor allem was die Zusammenarbeit mit Den Haag betrifft. Auf der anderen Seite steht die gläubig-neuliberalistische "Expertenpartei" G17. Die geballte ökonomische Vernunft in der Partei möchte Serbien in einem mystischen Liebesakt mit den westlichen Geld- und Finanzströmen beglücken, wobei eine Parteitaktik zur Verwirklichung dieses Ziels, abgesehen von einer wüsten Beschimpfung der Gegner, kaum erkennbar ist. In Serbien ist ein Konglomerat aus der alten und neuen Polit-Mafia nach wie vor vorhanden. Die chauvinistische Ideologie bietet nur einen optimalen politischen Rahmen für deren Habgier. Wenn die Rechnung der Chauvinisten aufgeht, steht der Westen vor dem alten Dilemma: Verhandeln, Ignorieren oder wieder Isolieren? Aktuellen Umfragen zufolge könnten Seseljs radikale Ultranationalisten stärkste Partei im serbischen Parlament werden. Wenn Milosevics Sozialistische Partei, die bisher kaum Chancen hatte, auch aus ihrem Koma erwacht, könnten die sogenannten Patrioten wieder von einer Machtübernahme in Belgrad träumen. Diese regionalen Tendenzen wären mit denen in Europa sogar kompatibel. Denn: der Wind weht von rechts. Für den Westen wäre das jedoch eine schallende Ohrfeige und für die Balkanregion ein regelrechter GAU.