Dies ist ein anonymisierter Erfahrungsbericht einer Journalistin aus der Türkei, die sich im Westen des Landes befand, als das schwere Erdbeben am Montagmorgen ihre Heimatstadt und damit ihre Familie und Freunde traf. Der Text kam per Sprachnachricht am Mittwoch, zwei Tage nach dem Erdbeben, und wurde durch die Redaktion transkribiert und übersetzt.
Ich habe jahrelang als Journalistin in Krisengebieten gearbeitet. Ich schrieb und schrieb gegen die Verzweiflung an: aus Syrien, dem Libanon, dem Irak und auch der Türkei. Ich erzähle dies aber nicht als Journalistin, sondern als jemand, dessen engste Angehörige vom Erdbeben unter den Trümmern begraben liegen und sie keine Hilfe mehr erwarten können. Auch ich konnte nicht hinfahren und ihnen meine Hand reichen. Ich erzähle Ihnen das als Bürgerin des türkischen Staates, denn meinen Schutzschild als Journalistin habe ich längst abgelegt.
Dieses Schutzschild, diese emotionale Distanz, um den Job auszuüben, die ist mir abhandengekommen. Ich bin eigentlich ein skeptischer und ungläubiger Mensch. Und trotzdem bete ich jeden Tag voller Hoffnung. Ich erwarte und warte auf Wunder. Und dabei glaube ich noch nicht einmal an Wunder! Aber aus Verzweiflung erwartet man in diesem Land ständig Wunder, die einfach nicht eintreten.
Wir erleben Trauma über Trauma in diesem Land und ich weiß nicht, wie traumatisiert ich inzwischen bin. Wir kennen das bereits: Nach einem solchen Unglück veröffentlicht die Türkische Psychologenvereinigung ein Statement, das lautet, dass sie Hilfe vor Ort anbieten können, wie kostenlose Therapien für Verletzte und Betroffene. Aber es hört ja nicht auf! Ständig sind wir im Emergency-Modus und finden kaum Zeit, unsere Wunden zu betrachten und zu heilen.
Derzeit kann ich nicht in meiner Wohnung sitzen und etwas essen. Weil ich weiß, dass die Menschen dort Hunger leiden. Du kannst nicht einfach den Ofen anschmeißen, weil du weißt, dass Menschen vor Kälte erfrieren. Ich bin mir sicher, dass die Laster mit der warmen Kleidung nicht dort ankommen werden. Und ich glaube, wenn, dann brauchen die Menschen vor Ort neben der warmen Kleidung noch etwas anderes. Meine Tante zum Beispiel ist seit gestern Abend an einem sicheren Ort. Sie kann aber nicht mehr sagen als „alles ist eingestürzt, eine Katastrophe“. Sie weint und weint. Wie eine kaputte Schallplatte wiederholt sie immer wieder diese Sätze. Wie wird sie wieder gesund? Ich weiß es nicht.
Das Stiefkind Antakya
Von außen betrachtet ist es vielleicht schwer zu verstehen, aber: Privilegien sind etwas Sonderbares, man erkennt sie erst, wenn sie nicht vorhanden sind. Aber wenn dir etwas zustößt und es gibt einen kleinen Funken Hoffnung, dass eine Struktur oder ein System einspringt, egal, wie schlecht es sonst funktioniert, das ist ein Privileg. Das versteht man erst in dieser Situation.
Der Staat ist kaum vorhanden. Geschweige denn, dass er die Organisation der Rettungsarbeiten oder der nackten Hilfe vor Ort übernehmen kann. Stell dir das vor: Die Menschen liegen unter den Trümmern und rufen um Hilfe, sie schreien um ihr Leben und du als Überlebende oder auch nur als Freiwillige kannst nichts tun. In diesem Moment ist der einzige Gedanke: Ich setze mich hin und rede mit diesem Menschen, solange es geht, damit er oder sie nicht allein ist. Und du weißt, es wird so schnell keine Hilfe kommen.
Meine Heimatstadt Antakya, eine der am schwersten betroffenen Städte, wurde bisher immer stiefkindlich behandelt. Wenn ich den Menschen in Ankara oder Istanbul erzählt habe, dass ich als Angehörige einer Minderheit als Mensch zweiter Klasse behandelt wurde, dann haben sie das Gesicht verzogen. Sie wussten nicht, was ich damit meine. Ob sie es jetzt verstanden haben, weiß ich nicht. Und wenn sie es verstanden haben sollten, hat das heute keinen Wert mehr.
Meine Liebsten sind unter den Trümmern, meine beste Freundin hat noch ihre Familie aus den Trümmern gezogen, bevor das zusammengestürzte Wohnhaus in Flammen aufging. Dort waren noch lebende Menschen, ihre Freunde, ihre Nachbarn unter den Trümmern. Und niemand eilte zu ihrer Hilfe. Wie denn? Jeder versucht sich gerade so gut es geht um Hilfe zu bemühen, aber es reicht einfach nicht.
Der Staat kontrolliert die Straßen und Hilfsgüter
Das Erdbeben ist zu groß und zu wuchtig. Aber ich dachte, der türkische Staat ist ebenfalls stark, wirklich. Aber dass dieser riesige Staatsapparat nicht auf diese Katastrophe angemessen antworten kann, verstehe ich nicht. Das kann nicht nur mit der Wucht des Bebens erklärt werden. So viele Tote, so viel Zerstörung, so viel Unorganisiertheit, dafür reicht die alleinige Erklärung „Das Erdbeben war zu extrem“ nicht.
Wie konnten diese gefährdeten Häuser noch bewohnt werden? Gut, die Menschen hatten vielleicht keine andere Chance, aber wo bist du als Staat? Sind wir so wertlos, dass du kein Interesse an uns hast, an deinen Menschen in diesen Gebieten? Das ist das Gefühl, was hier alle teilen, die Wertlosigkeit. Als ob wir im Wald leben würden. Als wären wir Tiere im Dschungel. Wenn Du Dich um dich selbst sorgen kannst, dann ok.
Aber weshalb gibt es staatliche, gesellschaftliche Strukturen? Damit eben nicht „survival of the fittest“ die Maxime ist. Aber in diesem Teil der Türkei werden wir noch nicht einmal als Menschen angesehen.
Menschen plündern gerade Läden, und warum? Weil sie Hunger haben, weil sie ein Stück Brot wollen. Da sind keine Diebe. Seit Tagen sind sie obdachlos, sie frieren und sie haben Hunger. Aber die Elite des Landes diskutiert gerade über die Sicherheit und Plünderungen. Sicherheit? Wo war denn unsere Sicherheit? Weil die Elite des Landes keine Hilfe leisten kann, versuchen sich die Menschen selbst zu helfen. Wir haben versucht, eigene Hilfe zu organisieren, aber wir wurden an den Stadtgrenzen abgewiesen, mit dem Verweis auf das Notstandsgesetz. Die betroffenen Regionen haben keine Krankenhäuser mehr, sie sind entweder eingestürzt oder so weit weg vom Stadtgebiet, dass kaum jemand hinkommt.
Es fehlt an medizinischer Ausrüstung, an Ärztinnen, an allem. Und deine Antwort als Staat ist, dass du medizinisches Personal aus anderen Städten, die als Freiwillige kamen, wieder zurückschickst? Nur, weil sie in der Gewerkschaft sind? Du lässt medizinisches Material, das in Lastern ankommt, nicht in die betroffenen Gebiete? Warum? Du kannst als Staat nicht nach Antakya, während der Bürgermeister von Istanbul sein Equipment senden kann? Natürlich nicht ohne Hintergedanken, weil es auch die Opposition politisch nutzt, aber egal. Aber auch diese Hilfen wurden von dir unterbunden.
Kein Wort reicht aus für den Schmerz
Was ist das? Was erleben wir hier? Diese Menschenleben sind nicht Futter für politische Propaganda. Die Menschen kommen nicht aus den Städten raus und auch nicht in die Städte hinein, du stehst als Staatsvertreter da und kontrollierst und sperrst Straßen ab, damit niemand mehr in die Stadt kommt. Warum ist das Telefonnetz zusammengebrochen und das Netz gedrosselt? Was machst du mit unseren Steuern? Und vor allem mit der Erdbebensteuer, die du von jedem seit 23 Jahren abkassiert? Wo sind diese Gelder? Wenn du das Geld nicht für einsturzgefährdete Gebäude benutzt hast, wohin wurde es umgeleitet?
Diese tiefe Ohnmacht, die wir alle gerade bis in unsere letzte Körperzelle spüren, ist das, was dieses Land in uns auslöst. Verzweiflung ist das, was ich alltäglich spüre. Wertlosigkeit oder das Gefühl, nichts zu nutzen. Immer wieder brüllt mir dieses Land ins Gesicht, dass ich wertlos bin.
Es dreht zurzeit fast jeder durch und weiß nicht, wo er anpacken soll und helfen kann. Aber gerade ist es auch wichtig, sich gut zuzuhören oder Menschen im Umfeld zu haben, die angemessen zuhören können. Das ist schwer, denn wir haben so viele gesellschaftliche Traumata und Verletzungen erlebt in den letzten Jahren.
Kein Wort reicht dafür aus und ich weiß nicht, wie ich meinem Schmerz, meiner Wut, meiner Trauer noch Ausdruck verleihen soll. Ich bin so erschöpft davon, wertlos zu sein, als Bürgerin dieses Landes.
Korrektur: Ursprünglich gaben wir an, dass die Sprachnachricht uns am Dienstag erreichte. Sie erreichte unsere Redaktion jedoch am Mittwoch. Dies bitten wir zu entschuldigen.
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