Berichte aus der Zukunft

Literatur James Lawrence Powell nimmt uns in „2084“ mit ins Morgen und zeigt, was wir schon jetzt alles falsch gemacht haben werden
Ausgabe 40/2020

Wer heute in seinen 20ern oder frühen 30ern ist, könnte das Jahr 2084 noch erleben. Aber ist das erstrebenswert? Nichts wird 2084 mehr so sein, wie es heute ist. Und alles wird 2084 schlechter sein, als es heute schon ist. Jedenfalls, wenn man den Expertinnen und Experten glaubt, die James Lawrence Powell in 2084: Eine Zeitreise durch den Klimawandel zu Wort kommen lässt.

Die Niederlande? Große Teile des Landes lagen schon immer unter dem Meeresspiegel. Doch bald ist auch die ausgeklügelteste Deichbaukunst ratlos. Regiert wird 2084 vom kleinen, beschaulichen Maastricht aus, 42 Meter über Normalnull. 42 Meter reichen nämlich gerade, um noch aus den Wellen herauszugucken. Politik? In den meisten Teilen der Welt sei Politik „völlig unbedeutend“ geworden, sagt Professor Sinclair Thomas, Experte für Faschismus im 21. Jahrhundert. Nachdem in den 40ern – wohlgemerkt den 40ern unseres Jahrhunderts – eine Liga faschistischer Nationen „stolz das antike Herrschaftssymbol der Römer und die Ikone der italienischen Faschisten“ vor sich hergetragen habe, stelle sich im Jahr 2084 eine ganz andere Frage: „Warum sollte man sich (...) die Mühe machen, wählen zu gehen, wenn man weiß, dass die politischen Anführer der Vergangenheit versagt und so dafür gesorgt haben, dass der Weltuntergang unmittelbar bevorsteht?“ Peru? Einst speisten tropische Gletscher die regenarme Millionenstadt Lima. Heute kämpfen Banden um das letzte bisschen Trinkwasser. Indien und Pakistan haben sich nuklear in die Steinzeit zurückgebombt, Äthiopien ist nach einem militärischen Konflikt mit Ägypten um das Wasser des Nils der vergessenste Ort dieser dem Untergang geweihten Erde.

Glaubt man Powells Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, war es schon in unserem Jahr 2020 zu spät, all das abzuwenden. Powells Erzähler, mit dem Autor teilt er den Namen und geboren ist er 100 Jahre nach Studs Terkel, dem Meister der „Oral History“, betreibt 2084 genau das: Er befasst sich mit „mündlich übermittelter Geschichte. Meine Arbeit besteht darin, entscheidende Ereignisse der Menschheitsgeschichte aufzuzeichnen, indem ich die Worte derjenigen verwende, die sie erlebt haben. Damit liefern wir anderen Historikern das Rohmaterial, auf dem sie aufbauen und aus dem sie verallgemeinernde Schlüsse ziehen können.“

Lehren von morgen fürs Jetzt

Historikerinnen und Historiker blicken zurück. Bestenfalls erweist sich die Historie als Lehrmeisterin, von der man lernen kann, wie man es in Zukunft besser macht. Schlechtestenfalls erfährt man aus ihr, warum die Lage in der Gegenwart so aussichtslos ist, wie sie sich zeigt. Und 2084 ist die Lage aussichtslos. Was am „Jetzt“ liegt, unserem Jahr 2020: „Wenn Wissenschaftler (...) zurückblicken, stufen wir das Jahr 2020 als den Punkt ohne Wiederkehr ein“, lässt Powell einen Experten für Energieerzeugung sagen. Alles zu spät also, heute, und wir werden daran schuld gewesen sein. Das sagen uns Powells O-Töne aus der Zukunft.

Ist Powell nur ein Pessimist? Ein Schwarzmaler von jener Sorte, die wir jetzt, wo es gilt, das Ruder doch noch einmal herumzureißen, so gar nicht brauchen können? Einer bedingungslosen Zuversicht, wie sie seit Ronald Reagan in den USA quasi verordnet wurde, hängt der 84-Jährige nicht an. Besagt solcher Optimismus doch, wie Ernst Ulrich von Weizsäcker im Vorwort schreibt, unangenehme, kritische Fragen auszublenden: „Wenn Du kein Optimist bist, bist Du kein guter Patriot. Kritik und Pessimismus sind moralisch pfui.“ Kritik und Optimismus sind es aber gerade, die wir im Moment am dringendsten brauchen. Kritik daran, dass der Umweltschutz mehr als zu wünschen übrig lässt, obwohl der Permafrost und Gletscher schmelzen und das größte Artensterben seit Erdgedenken in vollem Gange ist. Obwohl eine weltweite Seuche wütet, die man auf den unersättlichen Raubbau des Homo sapiens an der Natur zurückführen darf. Schon heute kommunizieren wir, pandemiebedingt, oft per Videotelefonie. Wie Powells Historiker mit seinen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern 2084.

Denn 2084 ist jetzt. Bei seinen Interviews habe immer eine Frage im Raum gestanden, „die unsere Kinder und Enkel ständig auf den Lippen haben“, schreibt Powells „Oral Historian“. „Wenn die Menschen wussten, dass die globale Erwärmung schlimm werden würde, warum haben sie sie nicht aufgehalten?“ Wer sich mit Powell auf Zeitreise begeben hat, wird alles daran setzen, diese Frage schon heute zu beantworten. Damit sie sich 2084 gar nicht erst stellt.

Info

2084. Eine Zeitreise durch den Klimawandel James Lawrence Powell Axel Merz, Dietmar Schmidt, Rainer Schumacher (Übers.), Quadriga 2020, 256 S., 22 €

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