Claus Peymann, 1937 in Bremen geboren, gründete nach Abitur und Studium dieStudiobühne Hamburg, arbeitete 1966 bis 69 als Oberspielleiter am TAT (Theater am Turm) in Frankfurt/Main, gründete 1971 zusammen mit Peter Stein, Karl Ernst Herrmann und Dieter Sturm die neue Schaubühne am Halleschen Ufer in Berlin. 1974 wurde er Schauspieldirektor in Stuttgart, 1979 übernahm er die Leitung des Schauspielhauses und der Kammerspiele Bochum und wechselte 1986 als Direktor ans Wiener Burgtheater. Seit 1999 ist er Chef des Berliner Ensembles. Acht Mal wurden die von ihm geleiteten Theater zum "Theater des Jahres" gekürt, 45 Inszenierungen der von ihm geleiteten Theater waren zum Berliner Theatertreffen eingeladen, davon 20 Peymann-Inszenierungen.
FREITAG:"Peymanns Stuttgarter Kinder", kürzlich im Fernsehen gezeigt, ist ein aufregender Film über Ihre Zeit als Stuttgarter Schauspieldirektor in den Jahren 1974-79. Als Sie dort anfingen, begann in Stuttgart-Stammheim der Prozess gegen die Baader-Meinhof-Gruppe. Ihre Geldspende für deren Zahnbehandlung und Ihr entsprechender Anschlag im Theater - Ex-Nazi Filbinger als Sie attackierender Ministerpräsident - Heinrich Böll, Volker Schlöndorff unterm Zugriff der Polizei, auch Claus Peymann im Fadenkreuz der BILD-Zeitung, als "Dramaturg des Terrorismus" - "tolles Theater" in Stuttgart, wie sich Harald Schmidt erinnert, von der CDU erzwungenes Ende der Ära Peymann, vier Stunden Applaus bei der Abschiedsvorstellung. Wie bewerten Sie heute Ihre damaligen Erfolge und Niederlagen? CLAUS PEYMANN: Die Stuttgarter Zeit war eine durchgehende große Herausforderung für unsere Arbeit. Sie führte zu vielen sehr brisanten Theateraufführungen, die sich vor allem mit Terrorismus und Fragen der Veränderung der Welt beschäftigten. Dass mich die bewaffneten Träumer und ihr sehr fragwürdiger oder gefährlicher Weg zur Verbesserung der Welt interessiert haben, das will ich nicht verhehlen. Was wir alle da mit dem Sozialismus angestellt haben, die Terroristen in der Bundesrepublik und die Politiker in Ost-Berlin und Moskau, das hat natürlich auch eine gewisse Desillusionierung bewirkt. Aber der Traum einer besseren Gesellschaft prägt bis heute, da ich am Theater Bertolt Brechts gelandet bin, meine Theaterarbeit.
In dem zitierten Film bezeichnete Harald Schmidt Ihre damalige Tätigkeit als "Fortsetzung des Rabaukentums in der Schule" und Sie als "Revoluzzer." Empfinden Sie das als diskriminierend? Absolut nicht. Vielleicht wären Kinder die größten Revolutionäre, und vielleicht könnten Kinder endlich eine friedliche Welt bauen. Das Schlimme ist ja bei den Revolutionären, dass der Kampf mit der Waffe sie so schnell zu Militaristen macht. Und etwas von dieser Kindlichkeit und Naivität, mit der Theaterleute durch die Welt ziehen, wäre etwas Helles und Schönes für alle.
Die Auffassung, dass die Kunst, dass das Theater Menschen verändern und in die Gesellschaft hineinwirken könnte, gilt heute vielen, die einmal daran geglaubt haben, als Illusion. Die erste Frage ist ja: Wie viel schlimmer wäre die Welt, wenn es die Kunst nicht gäbe. Jeder Mensch, wenn er sich ernsthaft prüft, wird in seinem Leben entscheidende Einschnitte feststellen können, die mit Kunst zusammenhängen. Für den Einen ist es der schöne Blues einer Jazz-Sängerin, für den Anderen ein Gedicht von Eichendorff oder eine Kantate von Bach oder eine Mozart-Oper - all dies prägt den Menschen. Die Welt ohne Kunst wäre eine andere, schreckliche Welt. Dass der Zustand der Welt nicht zufriedenstellend ist, ist ein anderes Thema. Und dass das Theater, zumal das deutsche, in der Tradition von Lessing, Schiller über Kleist und Büchner bis hin zu Brecht und Heiner Müller, ja hin bis zu Peter Handke und anderen Gegenwartsautoren von einer Veränderung der Welt durch das Theater ausgeht, das Theater als "moralische Anstalt" begreift, als einen Platz der Aufklärung, das ist deutsche, abendländische Theatertradition, und in einer solchen Tradition sehe ich mich.
Sie haben nie einen Zweifel daran gelassen, dass Ihr Wechsel vom Wiener Burgtheater ans Berliner Ensemble ganz entscheidend von der Absicht getragen wurde, als Theatermacher die Hauptstadt des neuen, sehr großen Deutschland mitzugestalten. Das BE als "Reißzahn" am Eingang des Regierungsviertels, nicht weit entfernt vom neuen deutschen Banken- und Industriezentrum. Ein solcher Wunsch mag manchem größenwahnsinnig erscheinen, aber ich bin der Meinung, dass eine Gesellschaft und schon gar eine Metropole nicht durch Politiker definiert wird, sondern durch Künstler. Für mich macht sich die DDR keineswegs an Figuren wie Ulbricht und Honecker fest, sondern an Brecht oder Felsenstein oder Eisler oder Helene Weigel oder Anna Seghers. Heute sind wir an einer Zeitenwende. Dass in Berlin nicht wieder die preußischen, paneuropäischen Großmannsträume geträumt werden und dass wir nicht zu einem bedingungslosen Vasallen der Weltmacht Amerika werden, sondern unseren eigenen europäischen Weg gehen, der kein deutscher sein kann, daran möchte ich durch die Theaterarbeit mitwirken.
Im Gegensatz zu Wien, wo Sie vor allem mit der Uraufführung von Thomas Bernhards "nestbeschmutzendem" Stück "Heldenplatz" 1988 den größten Theaterskandal und das größte Theaterereignis der Zweiten Republik auslösten und tatsächlich das Land veränderten, seien Sie in Berlin bei Realisierung Ihrer Absichten "bestenfalls auf dem Wege, aber in keinem Punkte im Ziel, ja nicht einmal auf der Zielgeraden", haben Sie vor einiger Zeit resümiert. Die Stürme und Erdbeben sind ausgeblieben. Woran liegt es? Dass das BE noch nicht zu jenem Platz alternativen Denkens geworden ist, hat einen ganz schlichten Grund. Als ich engagiert wurde, fand ich praktisch in jeder Beziehung einen Trümmerhaufen vor, und das hat eine wahnwitzige Aufräumarbeit gekostet, sicher zwei Jahre, für lange Zeit traten künstlerische Arbeiten völlig in den Hintergrund. Das ist nur ein kleiner, struktureller Aspekt. Das viel Kompliziertere ist das heutige Theatermachen. Durch den Zusammenbruch des Sozialismus oder des sozialistischen Gegenmodells ist der Punkt eliminiert, die Gesellschaft, zumal die westliche, aus dem Blickwinkel einer sozialistischen Utopie zu sehen. Und der Zustand der heutigen Politik speziell in Deutschland oder Berlin ist vollständig amorph. Es gibt den Gegner gar nicht mehr. Westerwelle, Schröder, Merkel und Co., das sind ja alles Varianten auf die Fernsehmoderation. Trotzdem besteht das ganze Arsenal des Schreckens weiter, wie sich jählings vor ein paar Monaten gezeigt hat. Das heißt, hinter dieser lächelnden, sympathischen Kulisse bahnt sich eine Schreckensvision an: Dass plötzlich der Führer der Weltmacht zu einem Kriegstreiber geworden ist. Dass es plötzlich eine unheimliche Religionskriegskonstellation gibt, der Westen gegen die Moslems, das Abendland gegen das Morgenland. Ich habe das Gefühl, dass sich aus dieser neuen Konfiguration des Schreckens völlig neue Theaterarbeiten, völlig neue Theaterstrategien ableiten lassen müssten. Ob ich selber die Kraft und die Phantasie habe, das hier in Berlin zu finden, muss sich zeigen. Wir werden ja durch den geradezu zwanghaften Blick auf die Einnahmen und die Platzausnutzung, durch die Abschusslisten an einer so kurzen Leine gehalten, dass die Theaterarbeit in einer lässigen oder coolen Art gar nicht zu betreiben ist.
Da sind wir bei Brecht, dessen Berliner Ensemble dereinst Ihr "großes Traumtheater" war und dessen Historien und Parabeln in ihrem Antikapitalismus, aber auch in ihrer ästhetischen Qualität für Sie hochaktuelle Bundesgenossen sein könnten. Sie können sich vorstellen, dass wir diese Frage - wie in der Hoffnung auf ein politisches Theater übrigens auch die Stücke Friedrich Wolfs - hier im Hause ständig diskutieren. Im Vordergrund der Überlegung steht dieHeilige Johanna der Schlachthöfe, das ist für mich ein Stück über Monopolkapitalismus, also über Prozesse der Globalisierung - sehr interessant. Oder die große Farce über die Banken und den Kapitalismus, dieDreigroschenoper. Oder vielleicht dieMutter, ein Stück, das sagt, dass der Kommunismus das Richtige ist. Das Stück ist mit der Geschichte dieses Hauses aufs engste verbunden, es gab drei Inszenierungen in der kurzen Lebenszeit des Berliner Ensembles. Dass der Kommunismus das Wahre ist, das hat sich ja nicht erübrigt, er hat nur abgewirtschaftet als Praxis. Kann man mit diesem Märchen aus Vorzeiten des Klassenkampfs eine Diskussion entfachen für heute? Denn: Brecht zu spielen, nur weil man ein Brecht-Theater ist, das ist vollständig uninteressant. Ich habe mein Leben lang an den Theatern, wo ich Direktor war, wahnsinnig viel Brecht gespielt, und das nie aus musealen Gründen, sondern immer nur aus dem Gedanken heraus, dass der Brecht uns etwas zu sagen hat. So wird es auch am Berliner Ensemble sein.
Nachdem Tabori, Jelinek, Turrini, Kroetz erklärt haben, dass sie ihre neuen Stücke künftig bei Ihnen herausbringen wollen, besitzt Ihr Theater ein einzigartiges künstlerisches Kapital ... Peter Handke kommt hinzu natürlich. Wir haben gerade in der Regie von Luc Bondy eine Uraufführung von Botho Strauß herausgebracht. Da setzt ja auch eine Dialektik ein: In einem Theater, in dem Heiner Müller Direktor war und Brecht, werden Bernhard, Turrini, Kroetz und jetzt Botho Strauß gespielt, hoffentlich auch bald Peter Handke. Das ist ja auch der Fokus, den das Berliner Theater an der alten Ost-West-Schnittstelle darbietet, dass sich - nicht nur in der Schauspieler- und in der Regiearbeit - auch die Ströme des guten DDR-Theaters mit den Strömen des guten westlichen bundesrepublikanischen Theaters treffen.
Und wie sieht es mit ostdeutschen Autoren aus? Auf die Stücke von Christoph Hein freue ich mich, wir sind in enger Verbindung. Volker Braun hat ein Stück als Auftragsarbeit für das BE geschrieben. Die Autoren müssen das Gefühl haben, dass es ein Theater gibt, das sich für sie interessiert. Das macht ja auch diese wunderbare inzwischen Altersfreundschaft Taboris zu unserer Arbeit aus. Es ist etwas sehr Schönes, dass dieser große alte Mann, Dramatiker und Regisseur, der 88 wird, mit uns nach Berlin gekommen ist und hier jeden Morgen um das Brecht-Denkmal mit seinem Hund eine Runde geht - und eben jetzt hat er ein neues Theaterstück fürs BE geschrieben,Das Erdbeben-Concerto, das im Mai Premiere haben wird.
Im BE gab es eine einmalige Veranstaltung "Erich Fried erzählt ANGELA MERKEL, wie es wirklich war." Worum ging es da? Diesen ironischen Titel hat Klaus Wagenbach erfunden, die Fried-Soiree war zum Gedenken seines 80. Geburtstages. Erich Frieds Dichtung gibt ein klares Bild der politischen Zustände der sechziger und siebziger Jahre, und für Frau Merkel, die diese Jahre der Bundesrepublik nicht erlebt hat, aber so redet, als hätte sie sie erlebt, sollte dieser im Übrigen sehr unterhaltsame poetische Abend auch eine kleine Lehrstunde sein.
Was ist für Claus Peymann das Schönste in der Kunst, in der Theaterarbeit? Ich bin kein Philosoph und auch kein Theoretiker. Aber dass wir morgens um zehn in einen Raum ohne Tageslicht gehen, uns wie Kinder im Spiel miteinander nach unserem Maß unsere eigene Welt bauen und sie abends vor den Zuschauern behaupten, die auf der Suche nach dieser Verzauberung sind - etwas Schöneres, ein größeres Glück ist für mich nicht vorstellbar.
Wie gehen Sie an ein Stück, an eine Inszenierung heran? Die Entscheidung für eine Inszenierung, in die ich mit Schauspielern aufbreche wie zu einer Reise, fällt eigentlich aus dem Dunkel heraus, aus dem Geheimnis und der Komplexität, die ein Stoff für mich haben muss. Aber auch aus der Neugierde, ob der Verdacht oder die Hoffnung sich bestätigt, dass in dem Stück etwas für den heutigen Zuschauer aufzufinden ist.
Ähnlich äußerte sich Benno Besson. Ich hoffe, dieser Hinweis ist Ihnen nicht unangenehm. Keineswegs. Dieser große alte Mann war vielleicht der bedeutendste Regisseur, den das DDR-Theater hervorgebracht hat. Für mich warenDrachen,Ödipusund alle seine Inszenierungen ganz wesentliche Theatereindrücke, ich kenne sie fast auswendig. Übrigens gastiert Besson mit seiner gefeierten Lausanner Inszenierung vomKaukasischen Kreidekreis- die Presse spricht von einem "Brecht fürs 21. Jahrhundert" - im Juni im BE. Sie dürfen auch nicht vergessen, das ich in Bochum und Wien viele DDR-Regisseure als Gäste geholt habe, auch Heiner Müller, von dem in Bochum in meiner Direktion vier Stücke uraufgeführt wurden. Für mich und meine Generation westdeutscher Regisseure waren die großen Jahre des Theaters in der Frühzeit der DDR ganz wichtig. Dass die Kulturpolitik dann die Begabungen, die die DDR selber sozusagen geboren hatte, abwürgte und mundtot machte, daran ist die DDR auch im Grunde erstickt. Ob das Dresen war oder Schleef, das Team Manfred Karge-Matthias Langhoff, ja selbst ein etablierter Mann wie Thomas Langhoff, der bei bestimmten Projekten auch im Westen arbeiten musste. Das war ja das Furchtbare, dass sie im Westen arbeiten mussten.
Noch einmal zum Totsparen der Theater in Berlin ... Seit 20 Jahren wird in Berlin an den Theatern gespart und in der Kunst. Ich bin nicht bereit, das zu verstehen, ich bin da absolut störrisch. Die Kultur hier ist längst halbiert. Das Schiller-Theater ist weg, das Theater des Westens ist weg, das Metropol-Theater ist weg, die Freie Volksbühne Schaperstraße ist weg, Schlosspark ist bald weg, Hansatheater ist weg, die halbe Off-off-Szene ist verödet. Die Berliner Kulturinstitutionen, insbesondere die Theater, sind seit langem das Opfer, weil man sich an die fetten Happen nicht rantraut. An die Verkehrspolitik, an eine völlig falsche Bankenpolitik, an eine völlig falsche Struktur in der Beamtenschaft. Berlin ist auf dem Wege, Sibirien zu werden. Das ist nicht vergleichbar mit Weimar und Erfurt und mit anderen kleinen Städten. Nicht, dass ich es gut finde, wenn dort Schließungen stattfinden und völlig sinnlose Fusionen von Theatern diskutiert werden, das ist traurig, aber Berlin steht als europäische Metropole neben Paris, neben London und anderen europäischen Großstädten, auch in Konkurrenz dazu. Sie dürfen auch nicht vergessen, wie München etwa seine Theater aufrüstet, wie Stuttgart, wie Hamburg sie aufrüstet. Das heißt, Großstädte, die zur Metropole konkurrieren, wissen ganz genau, dass die Theater, die Kultur das Salz in der Suppe sind, dass sie Industrieansiedlungen und Leute, die eine Stadt stark machen, bekommen, wenn es ein tolles Freizeitangebot gibt. Das sollte mal der Wirtschaftssenator Gysi dem Kunstsenator Flierl soufflieren - oder umgekehrt.
Für Sie ist es eine Grundfunktion des Theaters, bis hin zur Staatsfeindlichkeit Gegenposition zu beziehen. Wie verträgt sich diese kämpferische Haltung mit Ihrer Andeutung, die Arbeit in Berlin "hinzuschmeißen"? Sie, der "Großfürst der Schnürböden", wie Thomas Bernhard Sie genannt hat, der "Striese auf Weltniveau" nach eigener Aussage. Von dem allerdings auch der Ausspruch zu Buche steht: "Ich war immer ein Abenteurer". Das würde ich heute noch unterschreiben. Aber ich habe nicht vor hinzuschmeißen. Ich habe immer gesagt: "Das Berliner Ensemble braucht ein bestimmtes Budget, sonst kann es nicht bestehen; wenn wir das nicht kriegen, stehe ich nicht mehr zur Verfügung." Dann werde ich allerdings nicht an ein anderes Theater als Direktor gehen, sondern frei arbeiten. Ich habe immer Berlin als den Abschluss meiner Theaterarbeit bezeichnet. Vielleicht war Stuttgart die Pubertät, Bochum waren die Gesellenjahre, und die Königsetappe fand in Wien statt. Und jetzt wollen wir einen möglichst genauen, scharfen und auch vielleicht schönen Epilog am Berliner Ensemble machen.
Das Gespräch führte Lothar Ehrlich
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