Demonstrative Geschlossenheit: Angela Merkel (mi) mit Aiman Mazyek (li), dem Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime in Deutschland
Foto: Sean Gallup/AFP/Getty Images
An den öffentlichen Reaktionen auf die Attentate islamistischer Terroristen in Paris überrascht der bislang angeschlagene Ton und die Klarheit, mit der beinahe alle Politiker, die Vertreter von Kirchen und Religionsgemeinschaften, die Repräsentanten der Zivilgesellschaft und sämtliche Medien erklären, sie würden den Anschlägen auf die freiheitliche Gesellschaft entschieden und geschlossen entgegentreten. Die trotzige Parole „Je suis Charlie“ demonstriert diese Haltung über alle Grenzen hinweg. Die Stellungnahmen zu den Anschlägen zeichnen sich zudem, bis weit in das rechte Lager durch die Mahnung aus, die große Mehrheit der Muslime nicht für das Morden einiger, in die Irre geleiteter Fanatiker verantwortlich zu machen.
Denn
u machen. Dennoch sollten wir uns gewahr sein, dass diese demonstrative Einigkeit nicht die Meinung der schweigenden Mehrheit in den westlichen Gesellschaften repräsentiert. Der in diesen Tagen publizierte Religionsmonitor 2015 der Bertelsmann Stiftung spricht für Deutschland eine klare Sprache: Danach sind hierzulande 57% der Überzeugung der Islam sei bedrohlich und 40% fühlen sich durch die Anwesenheit von Muslimen wie Fremde im eigenen Land.Die Geschlossenheit unserer Eliten und die Gespaltenheit der Gesellschaft machen ein gefährliches Problem sichtbar: Die Eliten repräsentieren die Stimmungen der schweigenden Mehrheit nicht. Auch der Zweifel an der Objektivität der Medien ist weiter verbreitet, als es die Verunglimpfung „Lügenpresse“ durch einige Demonstranten in Dresden erkennen lässt. Bernhard-Henry Levy, der bekannteste zeitgenössische Philosoph unseres Nachbarlandes mahnt in einem Namensbeitrag zum Anschlag auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (v. 9.Jan.2015) „kühle republikanische Besonnenheit“ an. Sind große Teile unserer Gesellschaft noch bereit, die politisch-gedanklichen Strapazen auf sich zu nehmen, Entwicklungen in unserer Welt differenziert, abgewogen und vor allem mit kühlem Verstand zu beurteilen? Bei wie vielen Menschen können wir eine solche Einstellung noch voraussetzen? Klingt die pathetische Forderung Levys, „uns Bürgern geziemt es, die Angst zu überwinden“ nicht eher hilflos?Diese Bedenken sollen keineswegs resignierend klingen sondern den Finger in die Wunde legen: Wir haben ein eklatantes Legitimationsproblem. Beschwörungspathos hilft nicht weiter. Wir brauchen eine realistische Gesellschaftsanalyse. Diese muss damit anfangen zu verstehen, was die Menschen bewegt. Gesellschaften sind Affektgemeinschaften. Es mag in der Tradition der französischen Philosophie liegen, an die Vernunft zu appellieren; ich halte es eher mit dem Holländer Spinoza, der die Einleitung zu seinem Politischen Traktat (1677) mit den Affekten beginnen lässt und kritisiert, dass sich die Philosophen nicht vorstellen, wie die Menschen sind, sondern wie sie sie haben möchten. Und so sei es gekommen, dass diese statt einer Ethik meistens eine Satire und niemals eine Politik-Theorie konzipiert haben.Grundlegend für eine angemessene politische Strategie gegen die Spaltung unserer Gesellschaften ist, sich einzugestehen und klar auszusprechen, dass es in unseren modernen Gesellschaften Eindeutigkeiten, Sicherheiten und Klarheiten, wie sie die islamistischen Fanatiker und die Pegida-Anhänger gleichermaßen vermissen, nicht mehr geben wird. Welcher Politiker wagt das in diesen Tagen? Der am Neujahrstag verstorbene Soziologe Ulrich Beck hat vor zwanzig Jahren einem von ihm herausgegebenen Band den Titel „Riskante Freiheiten“ gegeben und gefragt, welche Art von gesellschaftlicher Integration in hochindividualisierten Gesellschaften heute noch Legitimation stiften können. Die handelsüblichen politischen Antworten verwirft Beck. Weder sei es möglich, gesellschaftlichen Konsens über Wert-Integration herzustellen, weil die Vervielfältigung kultureller Wahrnehmungen die Grundlagen aufzehrt, aus denen sich Wertegemeinschaften speisen. Toleranz bedeutet eben heute für viele Menschen ganz Unterschiedliches und ist nicht bei allen positiv besetzt. Auch die Gemeinsamkeit materieller Interessen eigne sich nicht, um Zusammenhang zu stiften. Die goldenen 60er Jahre des Rheinischen Kapitalismus sind vorbei, die soziale Spaltung hat sich vertieft, Wachstum und Fortschritt sind heute keine für alle sinnstiftenden Gemeinschaftswerte mehr.Nimmt man die Erklärungen des französischen Präsidenten Hollande zu den jüngsten Ereignissen als Ausdruck einer politischen Integrationsstrategie, dann beschwört er vor allem die nationale Einheit. Der Prozess der Auflösung von Großgesellschaften ist aber irreversibel. Das hat gerade Frankreich erfahren müssen. Die Nation bleibt ein abstrakter Mythos, so gerne er auch diesseits und jenseits des Rheins bemüht wird.Was bleibt? Unsere Gesellschaften werden künftig durch noch mehr Heteronomie, mehr Ambivalenzen und auch – man muss es sagen – durch mehr Gewalt geprägt sein. Sicherheiten und Eindeutigkeiten werden – zum Leidwesen all jener, die es gerne einfach haben möchten – weiter abnehmen. Das mögen viele bedauern, aber es ist so. Die Forderung nach neuen Mauern, mentale Wirklichkeitsverweigerung oder Vergangenheitssehnsüchte können das „Unbehagen in der Kultur“ (S. Freud) zwar narkotisieren, aber nicht beseitigen.Gutes Regieren würde bedeuten, die Mitglieder der Gesellschaften miteinander ins Gespräch zu bringen, wie sich die Menschen unter diesen Bedingungen ein gelingendes Zusammenleben aller vorstellen, welche Regeln sie dafür brauchen und welche materiellen Bedingungen erforderlich sind. Nichts weniger als ein neuer Gesellschaftsvertrag für post-traditionelle, multikulturelle und prekäre Gesellschaften sollte das Ziel dieses Prozesses sein, in dem Ängste genau so ihren Platz haben dürfen, wie Interessen, Vernunft und Ziele.Unsere Gesellschaften werden als freiheitliche Gemeinschaften nur überleben können, wenn wir lernen, mit den Unsicherheiten zu leben, ohne sie beseitigen zu wollen. Moderne Gesellschaften können sich nur noch integrieren, wenn die Menschen die Chance haben, eine neue Erfahrung der Vergemeinschaftung real zu erfahren. Die Freiheit, als das Ziel der Politik (Hannah Arendt) kann ja nicht dadurch realisiert werden, von einer idealen Welt zu träumen oder die Wirklichkeit zu dämonisieren sondern nur dadurch, immer wieder an der Herstellung einer aus individueller Sicht imperfekten Welt mitzuwirken. Kluge Integrationspolitik sollte damit auf die gesamte Gesellschaft zielen, um zu erörtern, wie und unter welchen Regeln wir künftig zusammenleben wollen.Alle, die sich in den vergangenen Tagen zu einem Bündnis gegen die Angriffe auf die Freiheit zusammengefunden haben, sollten die ihnen zu Gebote stehenden Mittel einsetzen, um dieses gesellschaftliche Gespräch zu organisieren. Oder leben unsere Eliten in dem Irrglauben, wenn die Schlagzeilen verklungen und die Opfer beerdigt sind, wäre das Schlimmste überstanden? Dann hätten sie das eigentliche Problem nicht begriffen.
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