Besetzt die Wall Street!

USA Mitten im Finanzdistrikt von Manhattan sammelt sich seit fast drei Wochen eine wachsende Protestszene, die Amerikas Bankern und Bankstern zu Leibe rückt

Die politische Linke geht in den USA auf Zehenspitzen, seit Barack Obama im Weißen Haus sitzt. Es drohten viel schlimmere Republikaner, und man müsse im Rahmen des Möglichen bleiben. Doch jetzt sammelt sich offenbar eine neue Protestbewegung, die keine Lust hat auf diesen politischen Tanz. Stichwort: Besetzt die Wall Street! Im Zuccotti Park mitten im Finanzdistrikt von Manhatten gehen die Occupy-Wall-Street-Proteste in die dritte Woche. Mehr als 700 Demonstranten sind bisher festgenommen worden.
"Occupy Wall Street" stellt sich vor als „führerlose Widerstandsbewegung von Menschen unterschiedlicher Hautfarben, Gender und politischer Überzeugungen“. Was man gemeinsam habe: „Wir sind die 99 Prozent, die Gier und Korruption des einen Prozents nicht mehr tolerieren.“ Es soll offenbar noch eine Zeitlang weiter gehen: Bei einer Planungsversammlung Anfang der Woche fordern Aktivisten, dass man doch mehr Schlafsäcke brauche für die vielen, die im Zuccotti Park ein Camp aufgeschlagen haben.

Reicher als jemals zuvor

Angefangen hat die gewaltlose „Besetzung“ in Manhattan am 17. September; etwas chaotisch sah das aus für Außenstehende: Scheinbar keine konkreten Forderungen, aber Verbalattacken auf die Superreichen und die Bankster mit den Millionen-Boni, die sich vom Steuerzahler retten ließen. Überwiegend junge Leute kamen zusammen. Man machte Straßentheater; Zombies zogen durch die Wall Street und stopften sich Monopoly-Geldscheine in den Mund. "Occupy Wall Street" hat etwas ausgelöst: Ähnliche Kundgebungen gab es inzwischen in San Francisco, Boston, Chicago, Atlanta und Los Angeles. In Washington soll ab 6. Oktober der Freiheitsplatz unweit des Weißen Hauses besetzt werden. Das rüttelt anscheinend Aktivisten wach, die deprimiert sind nach acht Jahren George W. Bush, nach zehn Jahren Afghanistan-Krieg und drei Jahren der schönen Ansprachen. Richard Trumka, der Präsident des Gewerkschaftsverbandes AFL-CIO, lobte die Demonstranten – die Wall Street sei „außer Rand und Band“, während die Mittelschicht abrutsche. Die Transportarbeitergewerkschaft von New York zollte dem Mut der jungen Leute Beifall. Fast jeder sechste US-Amerikaner lebe in Armut, während das "reichste ein Prozent reicher" sei als jemals seit fast 100 Jahren.

Der Versuch lohnt sich

Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz, in rotem Anorak, hat im besetzten Park gesprochen. Die Mehrheit des Volkes leide unter den Missetaten der Finanzmärkte, sagt Stiglitz, der schon lange anprangert, dass das reichste ein Prozent der US-Amerikaner 40 Prozent des Gesamtvermögens besitze. „Wenn Sie vergangenes Jahr Steuern gezahlt haben, sollten Sie hier mit protestieren“, sagt ein Demonstrant. Viele Konzerne hätten nämlich keine Steuern zahlen müssen. Organisiert wird via soziale Medien. Occupywallst.org informiert über das Geschehen in Manhattan; über einen Link kann man den Besatzern sogar eine Pizza schicken. In den Medien wurden die Demonstranten gut eine Woche lang ignoriert oder verspottet. Es sei unklar, was die Ungewaschenen wollten.

Betsy Reed, Redakteurin beim linksliberalen Wochenblatt The Nation, verteidigte die Besatzer gegen Vorwürfe, sie seien naiv. An konkreten Forderungen habe es den Linken in den USA eigentlich nie gefehlt, schreibt sie. Geholfen habe das in den vergangenen Jahren freilich nicht. Vielleicht werde die Wall-Street-Aktion mit ihrem Symbolismus – dem Okkupieren eines kleinen Stücks vom Finanzzentrum – ein Funke sein für eine neue Bewegung. Ein Teilnehmer hat deren mögliche Erfolgsaussichten entschlossen und gleichzeitig melancholisch zusammengefasst in dem Video Niemand kann den Augenblick der Revolution vorhersagen: Die Wall Street Aktion biete jetzt vielleicht eine neue Chance, anders und wirksamer zu mobilisieren als in der Vergangenheit. „I think we are fucked either way, but it is worth a shot.“ (Wir würden wohl so oder so den kürzeren ziehen, aber der Versuch lohnt sich.)

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