Karl Marx, einer der präzisen Analysten des Kapitalismus, hat festgestellt, dass das Kapital als solches mit zunehmender Globalisierung die Welt beherrschen wird und der Homo sapiens zu einem Objekt verkommt, der dem System ausgeliefert ist wie einer „zweiten Natur“.
Von der gegenwärtigen Finanzkrise, die Europa in einem noch nie dagewesenen Ausmaß beherrscht, kann man nicht isoliert sprechen. Selbstverständlich ist sie ein Geschwür des Kapitalismus und als solche keine vorübergehende Erscheinung, sondern systemischer Auswuchs einer Krebserkrankung, die längst nicht mehr nur organspezifische Metastasen bildet. Begleitet und wechselseitig bedingt wird diese von einer Wirtschaftskrise, einer Eurokrise und aber auch einer Krise der EU.
Ökonomen verschiedenster Glaubensbekenntnisse versuchen, die „zweite Natur“ in pseudorationale Systeme zu zwängen, sie so zu erklären und mit ihrer Schein-Wissenschaft zu verhindern. In Tat und Wahrheit sind sie hohe Priester, die in ihren Tempeln mit Stoßgebeten das goldene Kalb zu domestizieren versuchen, wenn es mit seinen Bocksprüngen, die weder vorauszubestimmen noch einzudämmen sind, die Welt terrorisiert. Die bestehende Krise gleicht einem Tsunami, der über die Kontinente hinwegfegt wie ein Krieg, in dem das Kapital eigendynamisch um seine imperialistische Bedeutung ringt.
Zuerst ein paar Worte zur Wirtschaftskrise, die Deutschland nur deshalb noch nicht trifft, weil es im Einheitswirtschaftsraum als weitaus effizientester Produzent alle andern europäischen Nationen mit einer neuen Ausrichtung des Imperialismus, der nicht mehr mit Waffen vorgetragen wird, überrollt, und so als Exportweltmeister den germanischen Wirtschaftsraum einigermaßen über die Runden bringt.
Wachsende Überproduktion
Wie dünn das Eis ist, auf dem unser Wirtschaftssystem steht, lässt sich mit dem Lachsprinzip erklären. Im atlantischen Ozean bis hinunter zu den Küsten Feuerlands jagt der Lachs seine Beute und findet dann nach Jahren zurück zum kleinen Fluss, wo er in einem Bergsee das Licht des Wassers erblickte. Wenn er sich gegen den Strom hochkämpft zum Tümpel seiner Herkunft, nimmt er keine Nahrung mehr auf, weil er für die beschwerliche Reise zu seiner Reproduktion sich im großen Ozean so stark und fett gefressen hat, dass er sich durch keine Beute verführen und ablenken lässt vom Kampf gegen Wasserfälle und Stromschnellen, zum einzigen Ziel seines Daseins, der Erhaltung seiner Art. So ist es denn die große Kunst des Fischers, seine Fliege so geschickt tanzen zu lassen, dass der satte und futterabstinente Fisch einzig aus schierem Fressreflex zuschnappt, wenn ihm die Beute virtuos vors Maul gehalten wird.
Seit die ausbeuterische Pfründewirtschaft der Aristokratie vom beweglichen Kapital überrollt und der Mensch zu mobiler handelbarer Arbeitskraft im Industriezeitalter neu entmündigt wurde, war es eine große Herausforderung für das kapitalistische System, das Proletariat möglichst kostengünstig zu versorgen.
Während der letzten Jahrzehnte nun verschob sich das Problem der ausreichenden Versorgung dramatisch zum Problem des Absatzes einer durch Technologie wachsenden Überproduktion, die dem Konsumenten wie einem satten Lachs zu haptischem Schnappen vors Maul geworfen wird.
Werbung, Marketing und Promotion sind die Fliegenfischer der Neuzeit und werden zu immer wichtigeren Überlebensfaktoren des Kapitalismus, der, wie Marx das vorausgesagte, längst zu unserer „zweiten Natur“ geworden ist, der wir ausgeliefert sind wie die Höhlenbewohner der ersten.
Kommt der Konsum der Überproduktion auch nur in einstelligen Prozentzahlen ins Stocken, gefährdet das die Wirtschaft in hohem Maße und schafft riesige Heere von Menschen, deren Arbeit nicht mehr gefragt ist, weil die Ware, die sie produzieren, keinen Absatz mehr findet. Was erstens die Herstellung der Ware verteuert und zweitens die dringend nötige Kaufkraft der Konsumenten verringert.
Werbe- und Marketingkosten sind oft teurer als die Produkte selbst. So kommt den Fliegenfischern in dieser Phase des Kapitalismus eine immer größere Bedeutung zu, und wenn das Lachsprinzip nicht mehr funktioniert, torkelt die Wirtschaft vor allem in den schwächeren Nationen systemisch von einer Krise in die nächste und hängt dauerhaft an einem Tropf, der auch von der EU nicht mehr finanzierbar sein wird.
Das System selbst ist das Geschwür
Die Finanzkrise ist als Folge auch der Wirtschaftskrisen ein seit Jahrzehnten sich immer schneller entwickelnder Schwelbrand, der international geleugnet und mit kriminellen Bilanzfälschungen camoufliert wird. Er ist auch eine Folge der Einheitswährung Euro und verbreitet sich wegen der fehlenden Brandmauern der Nationalstaaten ungehemmt. Der Umgang mit der Währung, der Staatsverschuldung, dem Notendruck, der Inflation und der Abwertung ist Ausdruck des Charakters und der Befindlichkeit einer Nation und ihrer Bürger, der sich über Jahrhunderte entwickelt hat. Keine noch so gut strukturierte Vorschrift zur Qualifizierung zum Euro lässt sich gegen den Charakter einer Nation durchsetzen. Nicht einmal die wirtschaftlich Stärksten sind in der Lage, die EU-Bedingungen zu erfüllen.
Zur Finanzkrise gehört aber auch die Entwicklung der Banken- und Finanzwelt, die, längst von ihrer ursprünglichen Bedeutung als Dienstleister der realen Wirtschaft abgekoppelt, wie Casino-Satelliten um die Erde kreisen und eine Eigendynamik entwickelt haben, die für den real existierenden Menschen zur Bedrohung geworden ist, in einem Ausmaß, dass notabene mit Steuergeldern zur Verhinderung der totalen Katastrophe ihr Absturz verhindert werden muss. Jahrelang sind die Casinokapitalisten, die auch nichts mehr sind als Sklaven des System der permanenten Forderung nach Gewinnmaximierung, völlig unterkapitalisiert, verantwortungslose Risiken eingegangen (Subprime-Krise) und haben unter anderem auch davon profitiert, den schwächsten Nationen zu Wucherzinsen Geld auszuleihen. Keine Ordnungsmacht dieser Welt wird je in der Lage sein, solche Finanzgeschwüre zu verhindern, da sie nicht als einzelne Unglücksfälle zu behandeln sind. Vielmehr ist das System selbst das Geschwür, an dem die verschiedensten Vivisekteure lediglich kosmetische Operationen ausführen.
Wir haben den oft beschworenen Spätkapitalismus überwunden und befinden uns im Endstadium der Implosion, was dank dem Bewusstsein und der Fähigkeit des Erkennens, die dem Homo sapiens noch nicht vollständig aus dem Hirn gebrannt sind, hoffentlich dazu führt, dass wir gerade im Angesicht des Untergangs eines Systems, das die Erde seit Jahrhunderten terrorisiert, zu einem radikalen Umdenken fähig sind und aus der Ohnmacht des Daseins als Objekte der von uns geschaffenen „zweiten Natur“ zu eigenbestimmten Subjekten werden können, die sich den Sinn ihres Daseins neu definieren.
Dieter Meier, Bankierssohn und Künstler
Ich verstehe unter Punk (...) einen individuellen Anarchismus, eine Auflehnung, eine Weigerung. Mit diesen Worten im Fanzine No Fun trat Dieter Meier 1978 auf den popkulturellen Plan. Es folgte die Bekanntschaft mit dem Soundtüftler Boris Blank, man gründete Yello und schrieb Welthits wie The Race, aber man muss vor die Sängerkarriere des 1945 in Zürich geborenen Bankierssohn gehen, um obigen Text einordnen zu können. Schon als Kind führte ich faulen Zauber vor und kopierte Jahrmarktsverkäufer, schreibt Meier in seinem wunderbaren autobiografischen Bilderbuch Out of Chaos (Edel Germany 2011). Nach einer ersten Etappe als Berufszocker fand Dieter Meier zur Aktionskunst, die in der Teilnahme an der documenta 5 gipfelte. Am 23. März 1994 von 15.00 bis 16.00 Uhr wird Dieter Meier auf dieser Platte stehen. Kassel Juni 1972. Was dann auch geschah. Heute züchtet Meier Rinder in Argentinien (siehe Freitag 34/2009), ist zweitgrößter Einzelaktionär der Orell Füssli Holding, die die Schweizer Banknoten druckt, und schreibt gelegentlich Texte, todernste Texte eines begnadeten Spielers und Ironikers. (MA)
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