Besinnungstheater für den Mittelstand

Bühne "Der demografische Faktor" im Schauspielhaus Köln ist ironisch gegeltes Format-Theater, ein bunter Abend gedanklicher Diarrhöe. Gut, dass wir drüber geredet haben

Das Format fehlte noch: Der pränatale Jungsabend als ästhetische(r) Wille und Vorstellung. „Wir alle sind während der Produktion werdende Väter geworden“, gestehen die drei Moderatoren Nicolas Stemann, Thomas Kürstner und Sebastian Vogel und machen sich nun öffentlich Gedanken, was das bedeuten könnte. Im Kölner Schauspielhauses heißt das zu allererst: Das biedere Trio in Hemd, Krawatte und Strickjacke hat das gesellschaftliche Klassenziel erreicht. Und so umschlingt ein umlaufendes Stoffband heimelig Zuschauerraum und Spielpodeste mit Stegen (Bühne: Thomas Dreissigacker).

Die Solidargemeinschaft hält allerdings nicht, was sie verspricht: „Wir sind die Generation des Problems“ heißt es selbstkritisch in der Produktion Der demografische Faktor, einer Kollektivproduktion um den Regisseur Nicolas Stemann. Das ist jedoch kein Grund für schlechte Laune. Es wird locker geplaudert über die „Crux des Diskurses“, über die Unterschiede zwischen Ost- und Westgeburtenraten oder über die 300.000 Euro, die für Kindererziehung zu veranschlagen sind und wieviele Inszenierung man davon machen könnte. Was Stemann und Kollegen hier an Gedankensplittern, Angedachtem, Halbverdautem zum Thema Demographie auf die Bühne bringen, ist kaum mehr als Besinnungstheater für den Mittelstand. Gut, dass wir mal wieder drüber geredet haben. Oder einfach nur ironisch gegeltes Format-Theater mit selbstreferentiellem Making of-Geplauder und eine bisschen Kritik der Premierenkritik (der Autor war in der 2. Vorstellung). Und damit es zwischendurch nicht zu theoretisch wird, werden die fachlichen Videostatements des Soziologen Franz Xaver Kaufmann nach kürzester Zeit mit Songs über „Bugaboo“-Kinderwagen oder das „Mädchen in der 9. Reihe“ und Reimen wie „Es ist keine Ente / keiner zahlt die Rente“ überblendet. Keiner muss zurückbleiben an diesem bunten Abend gedanklicher Diarrhöe und jeder findet im Stilmix auch noch sein Lieblingsformat: Neben Songs, Moderatorsprech und Videosequenzen gibt’s auch noch Puppentheater der Truppe Das Helmi oder die selbst produzierte Sitcom Rolf und seine Freunde über den geriatrischen Titelhelden, der mit seiner japanischen Freundin zusammenlebt und den seine Tochter samt Schwiegersohn liebend gern aus der Sechszimmerwohnung vertreiben würde.

Der bewegendste Moment des ganzen Abends allerdings gehört der etwa 10-jährigen Ricarda Schenk, die ein sarkastisches Pamphlet mit Fragen wie „warum zeugen gute Menschen so wenig gute Kinder“ verliest. Im Hintergrund baut sich der Seniorenchor „Spätlese“ auf und skandiert wütend seinen Protest, bis das Mädchen sich umdreht und mit sanfter Stimme sagt: „Ich schaffe das schon, ich bezahle eure Rente“ – während schon das Zahlenverhältnis das Gegenteil vermuten lässt. Und während die Alten zur Pflege (oder zum Sterben) in den Hintergrund geleitet werden, ‚entgleist’ Myriam Schröder in einen apokalyptischen Monolog: Von der Altkleidersammlung bis zu Exportraten, von China zur Müdigkeitsgesellschaft, von den 99 Prozent bis zum Aussterben des europäischen Kontinents wird alles durch den Fleischwolf des Furors gedreht. Eine Publikumsbeschimpfung, die die gesellschaftlichen Defizite immer weiter aufschichtet – bis das kleine Mädchen höflich feststellt: „Tut mir leid, ich schaff das nicht allein.“ Es bleibt die einzig berührende Szene des Abends. Dass am Ende sogar noch Gott auf die Bühne bemüht wird, darüber kann man dann wirklich nur noch schweigen.

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