Virus und Essay

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Klett-Cotta hat sein Programm im Zuge der Krise umstellen müssen. Weder haben wochenlange digitale Kommunikation und die Smartphone-Epidemie (Manfred Spitzer) die Leute Cyberkrank! (ders.) gemacht, noch haben sie ihre Empfindsamkeit in der Isolation verloren. Im Gegenteil: In der Post-Corona-Welt spüren die Menschen eher zu viel. Richtig fühlen, entspannt arbeiten, der Herbsttitel von Dr. Cornelia Löhmer zeigt, wie man mit progressiver Muskelentspannung wieder ohne Fluchtreflex in der vollen U-Bahn fährt. Intimer wird es bei Gestalttherapeut Tobias Ruhland: Ich bin nicht ansteckend, das essayistische Sachbuch gibt Tipps für gelingenden Sex mit Menschen, die man vorher nicht mit Latexhandschuhen angefasst hätte. Paartherapeutin Julianna Heiland hingegen enthüllt in Geheilt. Liebe als Krankheit verblüffende Gemeinsamkeiten zwischen Trennung und Infektion und macht im Klappentext Hoffnung: „Wie eine akute Grippe fühlt sich Liebeskummer an, als würde er nie enden. Aber was uns nicht umbringt, macht uns immun.“ Konstantin Nowotny
Schwebstaublyrik

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Suhrkamp kündigt zwei Bücher von Star-Autoren an. Durs Grünbeins Das Aerosol, ein Frühlingserwachen erzählt nicht von Ausgangssperren, Infektionszahlen und teuren Toten, sondern ist eine poetische Annährung an das Virus. Von Schwebstaubpartikeln, sich in Nebeln frei wegdehnenden Tröpfchen ist hier die Rede, unbemerkt und suspendiert in jener Luft, die wir teilen. Rainald Goetz, dem das zu kapellenartig ist, schreibt in seinem Corona-Tagebuch KRISE wie immer kürzer, zerfetzter, kaputter. Je größer der Zeitdruck, desto irrer der produzierte Text. Aber der in Quarantäne lebende Chronist der Gegenwart sorgt sich vor allem um die Rettung seiner infizierten Dateien. In der edition erscheint ein Band von Kulturwissenschaftler_innen zum Virus als Metapher und Schreibstrategie. Anhand von Fallbeispielen wird der überraschende Nachweis geführt, dass Viren keinen Ursprung haben und ihre Spuren weder zurückverfolgt noch eingedämmt werden können. Sie haben immer schon angefangen und werden nicht aufhören, sich zu replizieren. Harun Maye/Erika Thomalla
Wasserfest

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Auch im Herbst punktet der Mare-Verlag nautisch. Spitzentitel ist John van Düffels Die ausgebrannte See. Quarantäne-Tagebuch eines Bordschreibers. Aus dem Wässrigen ins „Pigafredische“ (von Felicitas Hoppe übers., Vorzugsausgabe im wasserfesten Einband aus recyceltem Meer-Plastik, 120 S., 28 €). Die unerwartete Quarantäne des Kreuzfahrtschiffs Artania vor Australien hat dem weltbekannten Wind-, Wellen- und Wellness-Spezialisten John van Düffel als Bordschreiber ungeahnte Einblicke in die dunkelsten Abgründe der Passagier- und Besatzungsseelen ermöglicht. Ein weiteres ist Geoff Dyers Noch ein großartiger Tag auf hoher See. Mein Besuch auf dem Flugzeugträger USS Corona (aus dem unamerikanischen Englisch von Heiner Montag. Mit zahlr. Illustrationen von Kat Menschik, 240 S., 19,80 €). Nach seinem Aufenthalt auf dem US-Flugzeugträger George Bush (Another Great Day at Sea, 2014) hat Geoff Dyer noch einmal eine Einladung der US-Marine angenommen. Ungeahnter Höhepunkt: die Verlosung des Mundschutzes von Melania Trump im Bordlazarett. Erhard Schütz
Bio: Boris Johnson

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Rowohlt will weitgehend an dem vor Corona geplanten Herbstprogramm festhalten. Spitzentitel bleibt Wer alles weiß, hat keine Ahnung von Horst Evers. Das passe „perfekt zur Lage“, heißt es. Einzig bei den Beispielen wolle man nachjustieren: „Gesundheit und Ernährung (‚Veganfreie Wurst‘), an der Imbissbude (‚Kaffee zum Weglaufen‘), beim Arztbesuch (‚Da hamm Se aber hoffentlich ordentlich Zeit mitgebracht‘) und in der Erziehung (‚Solange Ihr Euren Tisch über meine Füße stellt‘) – das geht so natürlich nicht mehr. “ Gleiches gilt für Sicherheitszone von Katrin Seddig. Der Roman sollte die Ereignisse um den G20-Gipfel in Hamburg reflektieren. Es ist ein Familienroman; der Bruder Polizist, die Schwester Aktivistin. Das bleibt. Auch der Handlungsort. Aber der Konflikt soll sich nicht mehr um G20 drehen, sondern um die Durchsetzung der Kontaktsperre um die Osterzeit. „Wir arbeiten mit den besten ehemaligen Storylinern der Lindenstraße unter Hochdruck an einem aktuellen Plot.“ Im Sachbuch bleibt es bei Jan Ross’ Biografie von Boris Johnson. Michael Angele
Ein neuer Camus

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Ein Sommer 2015 war Ostern 2020 für Rechtsintellektuelle nicht. Die Grenzschließung allerorten hat auch dem Erfolgstitel des neurechten Antaios Verlags, Renaud Camus’ Revolte gegen den großen Austausch einiges an Virulenz genommen. Doch weil einer vom Rittergut sich auch in der Krise nicht schwertut, weil man Pluralität (meist mit der Vorsilbe „ethno-“) durchaus schätzt, hat man mit Die Revolte gegen den großen Aufbausch jetzt das ultimative Manifest für alle im Programm, denen die Reaktion des „Systems“ auf die Covid-19-Pandemie etwas „hysterisch“ erschien. Das Buch sei aus der Feder eines prominenten Lungenarztes, der früher eher in „links-grün versifften“ Gewässern gefischt habe, wird in identitären Kreisen gemunkelt. In Sachsen-Anhalt hält man sich bedeckt. Wer der ominöse „Pneumologe mit der Maske“ ist, will man erst auf der Frankfurter Buchmesse enthüllen, auch um die erwartbaren Proteste wie üblich für die eigene Publicity zu nutzen. Auf dem Buchcover prangt derweil ein schon jetzt verkaufsfördernder Aufkleber: „Ein neuer Camus“. Mladen Gladić
Schon wieder

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Till Lindemanns neusten Lyrikband Bämmbämm, BDSM! Ein Maskenspiel hat KiWi ins Frühjahr 2021 geschoben. Angst vor einem erneuten Interpretationsgau in Zeitungen und sozialen Medien sei nicht der Grund hierfür gewesen, betonte das Kölner Traditionshaus jetzt bei der auf Zoom verlegten halbjährlichen Vertreterkonferenz. Toptitel im Herbst wird Adagio Pastell des jungen Berliners Leif Randt. Das Buch „erzählt vom Glück. Von Tanja und Jerome. Eine Lovestory aus den frühen zwanziger Jahren. Die Fernbeziehung der beiden wirkt makellos. Sie bleiben über Text und Bild eng miteinander verbunden. Die Geschichte einer fast normalen Liebe und ihrer Transformationen. Ein Roman in drei Phasen, beginnend im Quarantänefrühling 2020.“ Auch im Programm: Moritz von Uslars Schon wieder Deutschboden. Die Ankündigung verspricht, dass der Popjournalist beim dritten längeren Aufenthalt im brandenburgischen Zehdenick gemäß den Auflagen zum Social Distancing nur eine einzige Kontaktperson gehabt habe. Welchen Geschlechts wurde nicht verraten. Mladen Gladić
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