Die Entscheidung der Verfassungsrichter zur Wahlrechtsreform der Koalition ist nicht nur einschneidend, weil nun kein gültiges Wahlgesetz mehr existiert. Sie wirft auch grundsätzliche Fragen auf zur Gestaltungskraft der Koalition.
Die Bundesrepublik hat ein undurchsichtiges Gemisch aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht. Die föderale Struktur verkompliziert die Regularien noch. Mit deren Feinheiten sind mitunter sogar Fachleute überfordert. Exemplarisch dafür sind die Überhangmandate: Schon 1957 kritisierte das Bundesverfassungsgericht, dass sie den Grundsatz der Gleichheit des Stimmengewichts verletzen. Über Jahrzehnte hinweg konnte der Gesetzgeber selbst unter fachlicher Anleitung keine Lösung für dieses Problem finden. Die vom Verfassungsgericht beanstandeten Mängel des Wahlrechts sind also tatsächlich komplex.
Das kann aber nicht die peinliche Umsetzung der Reform rechtfertigen, die Karlsruhe dem Gesetzgeber mit einer ähnlichen Entscheidung 2008 aufgetragen hatte. Schwarz-Gelb war nicht nur in der Sache überfordert, sondern hat auch das Gespür für die Bedeutung der Sache vermissen lassen. Viel zu spät einigte sich die Koalition im Juni 2011 auf einen Kabinettsentwurf – nur fünf Tage vor Ablauf der von den Richtern eingeräumten dreijährigen Frist. Im anschließenden politischen Prozess verzichtete Schwarz-Gelb darauf, die anderen Parteien für ihren Vorschlag zu gewinnen. Das sorgte nicht nur bei der Opposition für Ärger. Schließlich betraf die nun gekippte Gesetzesnovelle den legitimatorischen Kern der repräsentativen Demokratie, nämlich den Wahlakt.
Peinliche Situation
Günter Krings, rechtspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, sprach von einem „minimalinvasiven Eingriff“. Damit dokumentierte er eindrücklich, wie hoffnungslos die Regierungskoalition die Bedeutung der Reform unterschätzte. Bestätigt fühlen darf sich nun ein Mahner wie Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU). Die Entscheidung gebe „Anlass zu einer selbstkritischen Betrachtung des Verfahrens“, erklärte er am Mittwoch. Bereits im Juni 2011 sah er den Gesetzgeber angesichts der ausgelaufenen Frist in einer „peinlichen Situation“.
Am meisten beunruhigen dürfte viele Bürger aber, dass die Regierungskoalition regelmäßig daran scheitert, ihre politischen Entscheidungen am Grundgesetz zu orientieren. Mit der Wahlrechtsreform erklärte das Verfassungsgericht bereits die fünfte Regelung aus schwarz-gelber Feder für nichtig. Am 12. September könnte mit der Entscheidung zum ESM die sechste folgen. Es ist alarmierend, dass die Regierung bei der Ausgestaltung politischer Entscheidungen zunehmend auf das Verfassungsgericht und nicht das Parlament vertraut.
Vor der neuerlichen Entscheidung nannte der Staatsrechtsexperte Christoph Möllers die Novelle einen „kleinen Entwurf“, von dem man wisse, dass dieser das Problem nicht löse. Gesetzgebung à la: Wir können es nicht besser, übernehmt ihr das mal? Gut möglich, dass die Opposition dieser Bitte der Koalition im nächsten Jahr nachkommen will.
Kommentare 9
Das diese Regierung mit der Verfassung nichts am Hut hat dürfte inzwischen jedem klar sein! Also nicht noch einmal diese Idioten (kann jeder von denen deuten wie er will) wählen.
P.S.: Die SPD ist, was das Wahlrecht angeht, auch nicht besser!
Es handelt sich mitnichten um handwerkliche, schon gar nicht um peinliche politische Fehler, sondern um Kalkül, wenn die schwarz-gelbe Bundestagsmehrheit Gesetze beschließt, deren Verfassungsmäßigkeit entweder wegen des Verfahrens oder wegen der Inhalte in Zweifel gezogen werden kann. Denn auch hier gilt: Wo kein Kläger, da kein Richter. Damit ist gemeint: Man kann es ja darauf ankommen lassen.
Wenn etwas an dieser Regierung peinlich ist, dann, dass sie selten zu dem steht, was sie tut oder getan hat, dass sie keine echten politischen Gestaltungsvorstellungen hat, und dass sie sich ihre Politik von den Finanz- und Wirtschaftsbossen diktieren lässt.
Freie und wirklich gleiche Wahlen braucht eine solche Regierung nicht.
Wie schon zu lesen war, will sich die SPD von den Überhangmandaten nicht verabschieden, sondern deren vollen Ausgleich. Somit würde das Parlament bei 15 Ü-Mandaten, die das BVG erlaubt, bis zu 30 Abgeordnete mehr aufweisen.
Leider werden kaum grundsätzliche Fragen gestellt und darüber nachgedacht: Weshalb wird bei der BT-Wahl nach Landeslisten gewählt? Auch nach der bvg-gemäßen Reform wird die Unverständlichkeit bleiben.
Am meisten nutzte das 2-Stimmen-System der FDP, die von den Leihstimmen der Konservatien lebt. In BaWü, dem Land, wo die CDU fast immer alle Direktmandate gewann, konnte der Konservative seine Zweitstimme bedenkenlos der FDP schenken, die dann locker die 5%-Hürde nahm. Dieses Faktum ist nicht zuletzt ein Grund, weshalb die FDP in BaWü eine relativ starke Position hat(te).
Es ist schon klar, dass die Linke bei der anstehenden Auseinandersetzung um ein neues Wahlrecht rausgehalten werden.
Es ist schon so, dass die derzeitige Regierungsorganisation systematisch Verfassungsbruch betreibt, damit die Demokratie -das rudimentäre was uns bleibt- auf der Strecke bleibt, um dann Kompetenzen des Bundestages an europäische nicht demokratisch legitimierte Gremien weiterzugeben. Es ist zu hoffen, dass das BVG auch bei der jetzt anstehenden Entscheidung erneut in die undemokratisch Machtpolitik von Merkel und Co reingrätscht.
Allerdings ist die SPD keinen Deut besser, wenn sie fordert, Überhangmandate mit Ausgleichsmandaten für die anderen Parteien vorzusehen. Sie wollen ebenso den durch Überhangmandaten möglichen Machtgewinn nicht verzichten. Pfui Deibel, ob das so Politiker wie Brandt wohl schmecken werden, getreu nach dem Brandtschen Motto des sowohl als auch wir wollen (nicht) mehr Demokratie wagen, sondern weniger
Es ist - mit Verlaub und persönlichem Respekt - völliger Bullshit, was Sie hier schreiben.
Das Wahlrecht ist nicht unverständlich oder uneindeutig - es IST verständlich. Und sogar eindeutig. Das Problem liegt nicht darin, dass es selbst für Fachleute unüberschaubar ist, sondern das die Parteiendemokratie es vorsätzlich gegen die Wand gefahren hat. Das kann man sehen - sofern man davon etwas versteht, und kein lauwarmes Geplapper ablässt.
Hat da jemals eine gültige Wahl in der Bundesrepublik Deutschland stattgefunden? Wenn ja, wieso?
Der gegenwärtige deutsche Bundestag hat eine vom Verfassungsgericht - zu Recht und sinnvollerweise vorgebenene Revision des bundesdeutschen Wahlrechts - aus parteitaktischen Motiven sabotiert.
Und? Deutung?
Mit ihrer an Kritik der Regierungskoalition liegen Sie nicht falsch - aber das ist auch das Einzige, was an dem Artikel ernstzunehmend ist- Leider umschiffen Sie auch hier die konkreten Punkte der Kritik.
Aber die sind ja kompliziert und nicht auf Schülerzeitungsniveau abhandelbar.
Die Überhangsmandate sind doch zweitrangig, es geht um die ganze Wahl und die ist ebenso unrecht, wie in der DDR.
Welcher von den Herrschaften kommt noch aus einem eigenen Wahlkreis? Bei den Grünen ist es lediglich Ströbele. Jahrzehnte werden die Leute von ihrem Arbeitgeber "Partei" in das Parlament geschickt und gehen erst dann, wenn sie vielleicht inkontinent sind oder sich langsam zu Staub auflösen,. Für mich das Unrecht pur. Und genau das hat schon Herr Prof. von Arnim in seinem Buch "Die Deutschlandakte" geschrieben. Die Menschen haben auf die Wahl überhaupt keinen Einfluß, weil vorher alles schon feststeht und so war es in der DDR auch. Frau Lengsfeld sagte berechtigt, dass es ihr im Bundestag vorkomme, wie in der damaligen Volkskammer der DDR. Viele haben bei der letzten Abstimmung noch nicht einmal gewußt, worüber abgestimmt wurde, die Medien zeigten es. So sieht es in diesem angeblichen Rechtstaat BRD aus. Selbst, wenn man jetzt ein anständiges Wahlgesetz zustande bringen würde, würden weiterhin die Wahlkreise fehlen und vorallem die Menschen, denn in der Zwischenzeit, mich eingenommen, gehen Zweidtrittel nicht mehr zur Wahl. Die Wahl kann und muß man sich in diesem Staat schenken, weil sich dadurch nichts verändert und das schon Jahrzehnte.
Wenn es nicht so fatal wäre, weil durch Nichtwählen eine Diktatur noch schneller errichtet wird, könnte man sich diese ganze Pseudodemokratie sparen! Diese BRD Demokratie ist nichts anderes als das was es in der DDR gab. Man hat dem Kind Demokratie nur einen anderen Anstrich verpasst. Makulatur ist eben alles!
Ich habe mich einmal mit den sogenannten Staatrateingaben (an Honecker) in der DDR beschäftigt. Viele Westdeutsche sollten das ruhig einmal wissen. Zu 99% wurden diese Staatsrateingaben für den Bürger positiv entschieden. In diesem Staat würde man nicht eine positiv (Petition oder ähnliches) durchbekommen. Ich habe es selbst erlebt, wo man eine Rücknahme, also den Rückkauf eines öffentlichen Weges, hätte anweisen müssen. Nichts hat man gemacht, als nur unsinnig gelabert, so wie es in diesem System Gang und Gebe ist. Dieses System ist eigentlich überhaupt nicht beständig, wenn die Lobbyisten nicht soviel Macht und Geld hätten. Und für diese Macht brauchen sie eben ihre Marionetten Volksvertreter.