Beutet mich aus, aber nennt mich „kreativ“

Arbeit Ein Unwort kaschiert die Auswüchse des neoliberalen Arbeitsmarktes. Zeit für den Aufstand der Unkreativen
Ausgabe 40/2019
Im Juni protestierten Anwohner in Berlin gegen einen geplanten „Campus“ unter dem Motto „Kick Google aus dem Kiez“
Im Juni protestierten Anwohner in Berlin gegen einen geplanten „Campus“ unter dem Motto „Kick Google aus dem Kiez“

Foto: Imago Images/Snapshot

Sie sind ja so kreativ! Na, denken Sie auch, das ist ein Kompliment? Tja, so geht es vielen. Leider. Eine Arbeit gilt dann besonders interessant, wenn die Tätigkeiten dort als kreativ bezeichnet werden. Die Karriere des Begriffs begann in den 1950er und ’60er Jahren, als die Gegenkulturen sich aufmachten, Alternativen zum Arbeits- und Familienmuff der Nachkriegszeit zu entwerfen. Sie verbanden sich seit den 70er Jahren mit dem Aufstieg des neoliberalen Kapitalismus, mit dem Dotcom-Boom und der entstehenden Tech-Branche, und „kreativ“ wurde das neue Cool.

Richard Florida lieferte 2002 die passende Wirtschaftstheorie dazu: In The Rise of the Creative Class behauptete er, dass kreativer Output der wichtigste Faktor für Wirtschaftswachstum sei. Sein Begriff der „kreativen Klasse“ wurde populär, und nun bekommen bei Google & Co vermeintlich kreative Programmierer nicht nur Gratisessen, wahnsinnig hohe Gehälter und Bällebäder, sondern verdecken als kreative Leuchttürme auch gleich, wie viele schlecht bezahlte, outgesourcte Servicearbeiter die Läden eigentlich am Laufen halten. Diese Trennung versucht nicht nur, unterschiedliche Löhne und Absicherungen zu rechtfertigen, sondern erschwert auch Solidarität. Agiles Arbeiten, Design-Thinking und ähnliche Techniken wurden zum anderen Vokabular für Flexibilität, die die Profite auf Kosten der Arbeiter*innen steigern soll. Die werden darüber nicht wütend werden, sondern fühlen sich als „Kreative“ aufgewertet.

Floridas Buch hatte großen Einfluss auf Stadtplaner, die predigten, dass Kreativarbeiter positiv für die Stadtentwicklung seien. Seinen Fehler hat er inzwischen eingesehen: In The New Urban Crisis argumentierte er 2017, die „Creative Class“ hätte die Macht in den Städten mittlerweile zwar übernommen, aber gleichzeitig auch alles, was positiv an Städten ist, vertrieben. Die Folge seien steigende Mieten, die Spaltung in Arm und Reich – und: langweilige Städte.

Gerade Tech-Unternehmen nutzen die Orientierung an der „kreativen Klasse“ jedoch weiterhin für den Umbau der Innenstädte: Hier bauen sie ihre Zentralen hin, hier installieren sie Mikroapartments für ihre Angestellten oder modellieren gleich ganze Stadtviertel um, die sie dann „Campus“ nennen. Motoren brutaler Verdrängungs- und Aufwertungsprozesse. Verdrängt werden natürlich als Erstes die, die mit dieser „Kreativität“ wenig am Hut haben. Kreativität ist zu einer Rechtfertigung geworden, die Zurichtungen des Kapitalismus zu verschleiern. Vielleicht ist es an der Zeit, dass sich die „Unkreativen“ mal vereinigen.

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