Die einstigen Bürgerrechtler der DDR, die jetzt öffentlich mitteilten, dass sie es "satt haben", was der politische Apparat des vereinigten Deutschland, Bundeskanzler, Minister, Parlamentarier, mehrheitlich den Regierten dreist zumutet - diese Bürgerrechtler leisten mit ihrer Empörung, mit ihrem Wutschrei einen wichtigen Beitrag zur inneren Einheit: Sie sind nun endgültig im Westen angekommen, denn sie machen sich über den bedenklichen, teilweise schon miserablen Zustand des real existierenden Pluralismus keine Illusionen mehr. In einer Eigenheit freilich sind die Frauen und Männer, deren Zivilcourage erprobt ist, ihrem herkömmlichen Verhalten treu geblieben. Sie sind mit ihrer Kritik wiederum Dissidenten, Abweichler vom herrschenden Standpunkt.
Dass
Dass sie es sind, werden sie daran erkennen, wie begrenzt die Öffentlichkeit ist, die sie finden. Das sind sie gewohnt aus den Zeiten, in denen die Mehrheit der Menschen in der DDR den Kopf noch nicht aus ihrer Nische steckte. Ich habe einst aus der nahen Beobachtung beider deutscher Nachkriegsstaaten als Erkenntnis gewonnen: Das öffentliche Bewusstsein in der DDR, abseits der parteiamtlichen Verlautbarungen, glich gewöhnlich einem Schwelbrand. Es loderte nicht hell, züngelte nur einmal hier, einmal dort, aber es war schwer zu ersticken. Im Vergleich dazu war das öffentliche Bewusstsein der BRD raketengleich: die Rakete schießt hoch, macht einen leuchtenden Schein, verpufft in glitzernden Sternen - und gleich danach ist es wieder ganz dunkel.Aber heutzutage können jene Dissidenten, die sich nun als solche in der BRD zu Wort gemeldet haben, wohl nicht einmal auf ein kleines Feuerwerk rechnen. Vielleicht jedoch auf den Effekt eines Schwelbrands? Mehr Hoffnung ist kaum geblieben. Für höhere Erwartungen ist Einheitsdeutschland inzwischen der entschwundenen DDR in manchen herrschaftsdienlichen Praktiken zu ähnlich geworden. Was noch fehlte, besorgt jetzt Otto Schily, der in seiner Entwicklung zum Polizeiminister wie eine Balzac´sche Romanfigur erscheint.Die publizierte Meinungsvielfalt beispielsweise, im Kalten Krieg immer ein wesentlicher Vorzug des Westens neben dem materiellen Vergleich mit dem Osten, ist seit einiger Zeit schon dürftiger geworden. Die Anpassung ans Vorherrschende ist gewachsen in der Meinungsbranche. Der wallende Zwang ist nach außen unauffälliger, als er in der DDR gewesen ist. Aber wenn die Betroffenen sich einmal in einer schwachen Stunde über ihre Lage äußern, so haben mir Gespräche deutlich gemacht, dann sind ihre Begründungen und ihre Selbsttäuschungen in der Regel zynischer grundiert, als sie es unter ihren Kollegen in der DDR waren. Dabei bleiben natürlich die pluralistischen Eigentumsverhältnisse noch einigermaßen gewahrt und auch das weit gehende Recht auf mehr oder weniger unterschiedliche Formulierungen der selben Meinung. Es lebe der kleine Unterschied.Jetzt freilich, nach dem 11. September, wird gelegentlich aus der gebrechlicher gewordenen Vielfalt gar eine schlichte Einfalt. Dieser Tage war in der Hauptnachrichtensendung des ZDF zu hören: "Am 9. Oktober haben die Amerikaner begonnen, die Taleban und die Terroristen zu bombardieren, und schon am dritten Advent ist Afghanistan ein befreites Land." Und diese Dummheit steht als journalistische Freiheit unter dem Schutz des Grundgesetzes.Wenn aus Meinungsmachern in gewichtigen Medien durch zweckbestimmte Bewusstseinsverweigerung oder aus Lust am Aufenthalt ihres Verstandes in der Trompete oder in manchen Fällen aus Anhänglichkeit an Geheimdienste, die in der Regel wenig wissen, aber viel Einfluss nehmen, Stimmungskanonen werden - dann ist Krieg. Aber was erklärt, warum Milzbrand schon ebenso in Vergessenheit geraten ist wie Anthrax?Falls große deutsche Zeitungen noch immer ihre Briefeingänge auf verdächtige Spuren kontrollieren lassen, eine verständliche Maßnahme, was hindert sie dann an der Einsicht, dass ihre Leser womöglich gern wüssten, ob die Anthrax-Attacken inzwischen als Schurkenstreich al-Qaidas erwiesen sind oder von US-Bürgern, die fanatische Arier sind, angezettelt wurden? Oder was es sonst damit auf sich gehabt hat. Die überfällige Antwort auf eine journalistisch pflichtgemäße Nachfrage an die zuständigen Stellen, bitte, in gleicher Größe auf Seite 1, wie vor ein paar Wochen die täglichen Terrormeldungen.Ist es der unerklärte, aber in Afghanistan schon ziemlich heftig geführte Weltkrieg, der vierte, wenn man den Kalten Krieg mitzählt, der das weitgehende Medienverstummen in dieser Sache bestimmt? Schwächt Aufklärung die Agitation und Propaganda? Hat der - zum Teil hysterisch selbst erzeugte - Verlust an faktisch angemessener Urteilskraft über den 11. September und dessen Folgen ein Bedürfnis nach Vergesslichkeit, nach der medialen Vermittlung eines Lebensgefühls von Tag zu Tag erweckt? Verglüht die Bewusstseinsrakete nun noch schneller als bisher üblich? Dies würde das Manipulieren weiter erleichtern.Den Deutschen blüht nun wieder, selbstzufrieden wird es verkündet, die Normalität herkömmlicher Machtpolitik. Der Unerfahrene oder der Unbarmherzige - im Blick auf die gewöhnlichen Opfer dessen, was nach aller historischen Erfahrung normal ist - mag das begrüßen. Die Rückkehr, in Jugoslawien begonnen, in Afghanistan fortgesetzt, ideologisch und agitatorisch in der Berliner Republik fast schon abgeschlossen, zum Glück noch ohne blutigen Tribut - diese Rückkehr war nach einer gewissen Erschöpfungspause nach 1945 unvermeidlich, war sozusagen menschlich vorgegeben. Nun, ein halbes Jahrhundert nach dem letzten Kriegsende der Deutschen, wollen die Nachgewachsenen mehrheitlich wohl nicht länger abseits stehen in der praktizierten Geschichtsmächtigkeit, die von den historisierenden Sinndeutern jeweils bis zum bitteren Ende als Selbstverwirklichung erklärt wird.Aber müssen wir bei unserer Rückmeldung zum Krieg auch gleich wieder im Tonfall übertreiben? Wahrscheinlich steckte hinter Schröders Floskel von "uneingeschränkter Solidarität" mit den USA nicht mehr als sein oft unbedachter Sprachgebrauch, der etwas Selbstverständliches - Solidarität - durch eine überflüssige Bekräftigung, zunächst nicht bedeutungsvoller als das laute Anpreisen eines Sonderangebots, zu einer selbst gestellten politischen Falle hat werden lassen. Oder macht die Normalität aus den Deutschen nun sozusagen Normopathen, die damit dann wieder aus der europäischen Normalität herausfallen?Die US-Amerikaner, in ihrer Psyche tief verletzt, verbinden derzeit eine Skalpjagd mit einem Krieg, der im Laufe möglichst kurzer Zeit allenthalben aufräumen soll mit den Resten einer Weltordnung, die noch von zwei Mächten gestaltet worden ist. Die Europäer werden wohl, wie ihre Politik nach dem Schock vom 11. September beschaffen war, an der afghanischen Etappe des amerikanischen Kriegs auf unabsehbare Zeit teilnehmen müssen. Das Ende wird aller Wahrscheinlichkeit nach unbefriedigend sein. Die finanziellen Hilfsmittel werden kaum ausreichen, um auch nur das notdürftig wiederherzustellen, was binnen drei Monaten zerbombt wurde. Die militärische Rolle der UNO-Friedenstruppe wird man abenteuerlich nennen müssen. Die vorsichtige Rückwärtsbewegung Schröders in diesem Zusammenhang wird vermutlich nichts fruchten. Und im übernächsten Bundestagswahlkampf wird Koch/Hessen mit der Parole auftreten, dass er unsere Jungs nach Hause holen will.Anders als im Irak wird in Somalia noch nach einem namhaften Skalp gesucht. Europa wird früh genug, also schnell, sein weiteres Verhältnis zu den USA mit dem Ziel einer abgestuften Partnerschaft verdeutlichen müssen. Es tut der Welt nicht gut, wenn die einzig verbliebene imperiale Macht auf keinerlei freundschaftlichen Widerspruch mehr stößt; auf Dauer ist das auch der Macht selber nicht bekömmlich. Aber ein de Gaulle ist vorerst nicht in Sicht.
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