Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker. Aber glauben Sie ja nicht, dass er Ihnen antwortet. Wenn es ernst wird, muss der Hersteller das Medikament schon selbst vom Markt nehmen. Vor zwei Wochen hat der Bayer-Konzern sein blutfettsenkendes Mittel Lipobay zurückgerufen. Zuvor war die Anzahl der Todesfälle in Verbindung mit dessen Einnahme auf weltweit 52 gestiegen. 52 Todesfälle auf sechs Millionen Lipobay-Patienten - das hätte das Mittel eigentlich zum selbstverständlichen Bestandteil jeder Hausapotheke machen müssen. So gut kommt man wohl bei wenigen anderen Pharmaprodukten weg. Und wahrscheinlich sterben mehr Menschen im Zusammenhang mit der Einnahme von Kartoffelchips als durch Lipobay.
Der Aufruhr war einfach strukturiert. Man hat
ch strukturiert. Man hatte einen personifizierten Bösen: Bayer, dessen Medikament »Menschen tötet«, wie die Anwälte bald gebellt haben. Klagen werden erhoben und Forderungen gestellt: Einmal wieder die grundlegende Reform der Medikamenten-Aufsicht, mehr Kompetenzen für die Behörden, mehr Geld für die Behörden. Überhaupt: mehr Geld. Die Bundesregierung erwägt, Patienten künftig Schmerzensgeld zuzubilligen, wenn sie durch fehlerhafte Medikamente Gesundheitsschäden erlitten haben. Das dient zwar der Genugtuung des Patienten und je nach Verschulden des Pharmaunternehmens der Bestrafung des Konzerns. Unter dem Strich sind Geldzahlungen nach Gesundheitsschäden oder gar Todesfällen aber neuzeitlicher Ablasshandel: Geld ändert nichts, aber alle haben alles Mögliche getan.Die schärfsten Vorwürfe gegen den Pharmakonzern laufen derzeit darauf hinaus, er habe das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte zu spät über erkannte Gefahren des Präparats informiert: im August statt im Juni. Es spricht einiges dagegen, dass die Vorwürfe in dieser Form zutreffen. Etwa, dass Bayer die Zulassungsbehörde durchaus umgehend informiert hat, es sich dabei aber um die britische Medicine Control Agency gehandelt hat. Es läge also eher ein innereuropäischen Kommunikationsversagen vor. Aber selbst wenn die Vorwürfe in vollem Umfang zuträfen und Bayer die deutschen Behörden fast zwei Monate pflichtwidrig im Dunkeln gelassen hätte: Selbst dann wäre der Vorwurf im Kontext der Anklagen zweitrangig. Natürlich kam es in der Zeit zur vermeidbaren Einnahme von Lipobay. Aber ob der Sturm der Entrüstung wirklich lauer gewesen wäre, wenn Bayer sofort informiert hätte?Die Ursache des Schreckens waren nicht die maximal sieben Wochen Verzögerung. Es waren auch nicht die Todesfälle, ob es nun fünf, 52 oder viel mehr sind. Es war eine Enttäuschung. Die Dekonstruktion zivilisatorischer Heilserwartungen. Plötzlich rauschen nicht die üblichen Statistiken vorbei, wie viele Menschen alljährlich an Tabak oder Alkohol sterben. Nein, es war ein Medikament, ein Retter, der da den Tod brachte. Das war der eigentliche Schock.Eine Krankheit kann nur zwei Folgen haben: Die Genesung oder den Tod. Medikamente gelten als sicheres Ticket in Richtung Heilung, obwohl sie bestenfalls ihre Wahrscheinlichkeit erhöhen. Medikamenteneinnahme ist gefährlich. Aber das wird verdrängt. Vergessen ist das Beruhigungsmittel Contergan aus den fünfziger und sechziger Jahren, dessen Einnahme durch Schwangere Kinder zu Krüppeln werden ließ. Im Umfang und Ausmaß ist Contergan zum Glück allein geblieben. Dass aber die so genannten Nebenwirkungen derart durchschlagen, dass sie eigentlich Hauptwirkungen genannt werden müssen, ist kein Einzelfall, sondern medikamentöser Normalzustand. Nur: Wer das sagt, gilt in Zeiten ohne Lipobay-Skandal als miesepetriger Fortschrittsfeind, der in letzter Konsequenz womöglich auch noch gegen die Gentechnik ist. Offensiver, kritischer Aufklärungspolitik hat sich der Bayer-Konzern nicht verdächtig gemacht, bis er Lipobay vom Markt nahm. Der Beipackzettel des Produkts enthielt erst seit diesem Jahr einen drastischen Hinweis auf die gefährliche Wechselwirkung mit dem Pfizer-Präparat Gemfibrozil. Aber so, wie es derzeit aussieht, hat Bayer zwar stets den Weg der geringsten Reibungsverluste gewählt, die Anforderungen dann aber eher übererfüllt - selten für ein profitorientiertes Unternehmen. Dass es trotzdem Lipobay und Bayer traf, lag letztlich an dem bemerkenswerten Schritt des Unternehmens, das Präparat selbst vom Markt zu nehmen. Andere Pharmaunternehmen sind da zögerlicher. Viagra-Produzent Pfizer zum Beispiel. Die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft warnt seit drei Jahren vor dem Erektionsmittel und wies noch im Januar auf die damit zusammenhängenden Todesfälle hin - zehn waren es allein in Deutschland.Ob diese Patienten allein aufgrund des Viagra-Genusses umgekommen sind, steht zwar nicht fest, ebenso wenig wie im Fall Lipobay. Es wird auch nie sicher festgestellt werden können. Wer Lipobay nahm, hat erhöhte Blutfettwerte, ist krank, geschwächt. Die Krankheit hat ihren Anteil am Tod. Oft nehmen die Patienten zusätzlich andere Medikamente. Es entsteht ein komplexes System aus möglichen Wechselwirkungen, individuellen Gesundheitszuständen, sozialen und medizinischen Begleiterscheinungen. Den Tod auf eine einzige Ursache zurückzuführen, ist da ein waghalsiges Unterfangen, das rasch nach Hexenjagd riecht. Die Komplexität der Anwendungsfälle kann den Pharmaherstellern nicht zum Vorwurf gemacht werden. Jedenfalls dann nicht, wenn wir von Medikamenten weiterhin und ganz selbstverständlich erwarten, uns den hochriskanten Alltag mit zu vielen Schwermetallen, zu viel Lärm und künstlichem Licht, zu wenig natürlicher Bewegung und dem einen oder anderen Quäntchen Elektrosmog einfach weiterhin zu ermöglichen. Am gefährlichsten ist immer noch das Leben. Es endet stets tödlich.(siehe auch S. 13)