Pflege Neuerdings schreibt die Krankenkasse vor, wo Beate B. die Windeln für ihre hilfsbedürftige Mutter beziehen darf. Über ein System, in dem Wirtschaftlichkeit vor geht
Erreichbarkeit rund um die Uhr, Nachtschichten, Stress, kaum Freizeit – das ist das Leben von Beate B. Sie ist keine Managerin oder Chefärztin, sie pflegt ihre Mutter. Anfangs musste Beate B. nur für sie kochen und aufpassen, dass sie die Medikamente nimmt. Inzwischen ist die Mutter bettlägerig, Beate B. achtet über das Babyphon auf jedes Geräusch, das kleinste Hüsteln könnte ein großes Problem anzeigen. Sie muss das Essen pürieren und natürlich muss die 43-Jährige ihre Mutter auch windeln. „Eklig fand ich das nie, schließlich ist sie meine Mama“, sagte Beate B. „Für mich hat sie das doch auch gemacht. “
Was Beate B. als eine Selbstverständlichkeit ansieht, ist auch ein Vollzeitjob, der schat
der schattige Augenringe in ihr Gesicht gezeichnet hat. Pflege, das heißt 24 Stunden Anspannung, Aufmerksamkeit rund um die Uhr. Und nun legt ihr die AOK Bayern auch noch Steine in den Weg. Als ob der Alltag der Pflegenden nicht schon anstrengend genug wäre.Seit Anfang des Jahres schreibt die Krankenkasse ihren Versicherten unter anderem vor, wo und in welcher Menge Windeln gekauft werden dürfen. Geregelt ist dies in einem Vertrag mit dem Bayrischen Apothekerverband. Der BAV handelt stellvertretend für alle Apotheken, die dem Kontrakt zugestimmt haben. Apotheken die nicht unterschrieben haben, dürfen an die Patienten der AOK Bayern keine Hilfsmittel mehr abgeben.Offiziell soll das die Versorgung der Patienten verbessern. In Wahrheit verbessert es vor allem den Haushalt der Krankenkasse. Gesundheit wird immer stärker einem Kosten-Nutzen-Denken unterworfen, bei dem es vor allem darum geht, wie die Patienten noch günstiger versorgt werden können und wo die Versicherung am meisten sparen kann. Die Vorstellung von den Krankenkassen als Knoten eines soziales System, bei dem Kranke und Pflegebedürftige bekommen, was für sie das Beste ist – das ist immer häufiger eine Wunschvorstellung. Beitragssatzsicherungsgesetz, Arzneimittelversorgungs-Wirtschaftlichkeitsgesetz, GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz – hinter solch monströsen Begriffen verbirgt sich eine Entwicklung, die Beate B. die Pflege ihrer Mutter erschwert, statt sie zu erleichtern. Zum Beispiel Rabattverträge: Versicherungen schließen mit Arzneimittelherstellern exklusive Vereinbarungen ab, die bestimmen, dass Versicherte nur noch Produkte dieser ausgewählten Unternehmen erhalten dürfen. Dabei ist es egal, ob ein Patient das Diabetesmedikament der Firma A besser verträgt – schließlich bekommt die Versicherung die Produkte von der Firma B viel günstiger, außerdem sind die Grundinhaltsstoffe dieselben.Eine ernüchternde AntwortJetzt sind auch die Hilfsmittel dran. Nach Paragraf 127 des Sozialgesetzbuches V dürfen Versicherungen auch mit Apotheken Verträge schließen und so festlegen, zu welchen Bedingungen Hilfsmittel an die Versicherten abgegeben werden. Zum Beispiel Windeln.Mitte Dezember 2009 erhielt Beate B. ein Schreiben von der AOK Bayern. Diese teilte ihr mit, dass sie die von der Mutter benötigten Inkontinenzhilfsmittel ab sofort nicht mehr bei ihrer Stammapotheke im Nachbarort kaufen dürfe, sondern nur noch bei bestimmten Vertragspartnern der Versicherung. Wer das genau sei, könne bei einer extra eingerichteten Hotline nachgefragt werden. „Natürlich habe ich erstmal lange niemanden erreicht. Und als ich dann endlich doch eine Beraterin am Telefon hatte, nannte die mir Apotheken in Naila, Selbitz und Rehau. Aber das ist ja alles ewig weit weg“, erzählt Frau B. Bis nach Rehau sind es 20, nach Selbitz 34 und bis nach Naila 40 Kilometer. „Da bin ich bis zu eineinhalb Stunden unterwegs!“ Eineinhalb Stunden, in denen sie einen Pflegeersatz organisieren muss, der sich um die Mutter kümmert. Zeit, die Frau B. für die vielen anderen anstehenden Aufgaben bräuchte – oder zur Abwechslung einmal für sich selbst.Von solchen Problemen, die vor allem in ländlichen Gebieten auftreten, will man beim Bayrischen Apothekerverband nichts wissen. „Schließlich verpflichten sich die teilnehmenden Krankenkassen die Hilfsmittel in umliegende Orte auch auszuliefern“, sagt Sprecher Thomas Metz. Auch Helge Leirich, Sprecherin der AOK Bayern, sieht keine Versorgungslücken auf die Patienten zukommen: „Wenn in einzelnen Orten kein Leistungserbringer direkt vor Ort ist, gibt es den Lieferservice. Wir haben noch keine Rückmeldung erhalten, dass der Lieferservice nicht funktioniert.“Frau B. rief bei einer der ihr genannten Apotheken an und fragte nach der Auslieferung. Die Antwort war ernüchternd. Die Apotheke fühlte sich für den Wohnort der Pflegenden nicht zuständig. Erst wenn mehrere Bestellungen zusammen kämen, würde sich die Fahrt lohnen. Vielleicht. „Ich habe über den ambulanten Pflegedienst gehört, dass noch ganz viele andere Betroffene verärgert sind und sich beschweren“, sagt Frau B. Und was den Bringdienst angeht, so sei auch dies eher eine Belastung als eine Hilfe. „Da muss ich mir das Material für einen ganzen Monat liefern lassen. Aber manchmal verschlechtert sich der Gesundheitszustand von einen Tag auf den anderen.“ In solchen Fällen konnte Beate B. bisher schnell zu ihrer angestammten Apotheke gefahren, wo man ihr eine Auswahl verschiedener Produkte anbot, wo es möglich war, Hilfsmittel auszuprobieren, wo ein langer Kundenkontakt die Sicherheit dafür bot, dass einvernehmlich nach der besten Lösung gesucht wurde.Ein lohnender Vertrag„So etwas ist jetzt gar nicht mehr möglich“, sagt Frau B. „Da muss ich einen Monat warten, bis jemand, der uns gar nicht kennt, irgendein neues Produkt schickt.“ Dabei spielt gerade bei einem so heiklen Thema wie Inkontinenz das Vertrauen und die Diskretion eine große Rolle. Gisela Wulf, die in einer Apotheke arbeitet, weiß, was das heißt: „Ich habe jetzt 30 Jahre Berufserfahrung. Viele Kunden haben eine enge Bindung zu mir. Aber jetzt müssen sie sich an irgendwelche fremde Apotheken wenden und sich die Windeln vielleicht sogar liefern lassen.“ Es sei vielen peinlich, wenn die Nachbarschaft auf diese Weise von der Inkontinenz anderer erfahre, erzählt die pharmatechnische Assistentin.Wulf findet es gut, dass ihr Arbeitgeber den Vertrag der Krankenkasse nicht unterschrieben hat. Es geht schließlich nicht nur um Vertraulichkeit, sondern auch um den Umfang der Leistungen. Bisher bestimmte der Hausarzt mit seinem Rezept, welche Hilfsmittel der Patient in welche Menge benötigte. Jetzt entscheidet darüber die Krankenkasse. Die Apotheken verpflichten sich die Versicherten im Rahmen eines monatlichen Festbetrags von 38 Euro mit Windeln zu versorgen. „Wenn jemand wirklich zu hundert Prozent inkontinent ist, dann reicht das nicht aus“, sagt Wulf.Die AOK Bayern widerspricht dieser Kritik: „Es handelt sich hierbei um eine Mischkalkulation, durch die verschiedene Bedarfe ausgeglichen werden. Die Pauschale wird auch voll bezahlt, wenn der Versicherte nur wenige Verbrauchsartikel benötigt.“ Das Geld das nicht benötigt wird, könne dann für schwerere Fälle mit verwendet werden. Allerdings heißt das auch, dass Apotheken, die verhältnismäßig viele stark inkontinente Patienten in ihrem Einzugsgebiet versorgen sollen, benachteiligt sind. „Das kann schon passieren, wenn ein ambulanter Pflegedienst in der Nähe ist“, erzählt Gisela Wulf.Beim Apotheker-Verband räumt man zwar ein, dass die gegenwärtige Regelung nicht alle zufrieden stelle. Aber dies sei nun einmal ein Ergebnis des politisch gewollten und geförderten Wettbewerbs zwischen den Krankenkassen. „Da macht dann jede Apotheke ein Marktanalyse“, sagt Sprecher Metz, „und wenn eine genügend Kunden hat, dann lohnt sich dieser Vertrag schon.“
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