Bis sie nackt im Leben sitzt

Ausstellung "Berlin hat mich zur Fotografin gemacht." Das C/O Berlin zeigt Gundula Schulze Eldowys beeindruckende Bilder aus den Jahren 1977 bis 1990

Mit den Bildern von Gundula Schulze Eldowy lockt ein verschwundenes Berlin ins C/O im Postfuhramt. Der Weg in die Erinnerung führt aber zunächst vorbei an „Nobles“, „Artists“ und „Performers“ – eine zweite Ausstellung im Haus zeigt die derart geordneten Bilder des Paparazzos Ron Galella. Treppauf steigt man dann hinab ins „Herbstlaub des Vergessens“ (Schulze Eldowy). Ein scharfer, gelungener Kontrast zwischen oben und unten.

Die frühen Jahre ist das Scheunenviertel in den Siebzigern und Achtzigern. Die alte Postbotin, die mit Brille und Lupe Adressen entziffert. Lothar, nackt auf dem Schrankbett, über ihm Schnaps, hinter ihm am Kopfende ein um 90 Grad nach links gedrehtes Porträt einer Frau. So liegt sie neben ihm, wenn er ins Kissen sinkt. Die gegerbten Gesichter entfesseln die eigenen Erinnerungen an den angrenzenden Kiez: An Kutte, der mit Spaß, Promille und einer Bierflasche auf dem Kopf, aber ohne darum gebeten zu werden, den Verkehr regelte. An den Hausmeister des Altenheims gegenüber, der mit den tiefen Augenhöhlen noch am Leben schon so gestorben aussah. Deren Bilder könnten hier auch hängen, in der Berliner Geschichte aus zerfurchten Berliner Gesichtern.

Die Stadtaufnahmen, dem Verfall überlassene Straßen, unterscheiden sich wenig von den Sujets Bernd Heydens, Roger Melis’ oder Gerd Danigels, von denen ebenfalls Bildbände bei Lehmstedt erschienen sind. Den Unterschied machen die Nahaufnahmen der Menschen im Kiez – rigorose Bilder von Hartgesottenen, die letzten Zuckungen eines schwindenden Milieus, um den Begriff doch zu bemühen, denn hier passt er noch. Die Nähe mag daher rühren, dass die junge Fotografin die Verhältnisse ihrer Motive teilte, in erster Linie als Nachbarin, in zweiter als Fotografin. „Man kann nicht in einer Gegend wohnen und systematisch deren Einwohner und die Lebensart ignorieren“, sagt die Künstlerin.

So ließ auch Tamerlan, die welke Schönheit, sie in ihr Leben. Stolz und Not, Wut und Angst – ablesbar an Falten, Blick, Haltung. Die alte Dame schreibt der Fotografin einsame Zeilen aus dem Krankenhaus – „Wenn du mein gutes Menschlein mir nicht vergessen hast“ – und wird von Bild zu Bild immer weniger, bis sie schließlich ohne Beine nackt im Leben sitzt.

Nackt sind viele. Die Akte sind Zeugnisse jener Natürlichkeit des Nacktseins, über die man kaum noch schreiben mag, weil sie zum Klischee verkommen ist. Die Serie Der große und der kleine Schritt aus den letzten Jahren der DDR verweigert Distanz. Es sind teils Motive ohne Gnade, in Farbe und dadurch viel näher als das Schwarz-Weiß. Heute sieht man dem Damals an, dass etwas an sein Ende kam: „Diesmal löst sich eine ganze Welt auf. Nicht nur ein Land. Die Auflösung (...) greift in jedes einzelne Leben“, steht an der Wand.

Der Heimweg führt über den Hackeschen Markt und durch ebenjenes Scheunenviertel. Der Rückschritt ins Jetzt wird auch begleitet von „Nobles“, „Artists“ und „Performers“. Kaum Grau und keine Narben mehr sichtbar. Und doch ist das nur die vorläufige Antwort auf den Wandspruch, den Schulze Eldowy dokumentiert hat: „Und was soll aus uns werden?“ Irgendwann bröckelt der Putz auf diesen Mauern wieder. „Hier hält sich nichts lang. Alles geht in kurzer Zeit sang- und klanglos unter“, sagt die Fotografin der schönen, schonungslosen Bilder dieser Gegend.

Die frühen Jahre. Gundula Schulze Eldowy C/O Berlin, bis 26. Februar.

Von Gundula Schulze Eldowy bei Lehmstedt erschienen: Berlin in einer Hundenacht, 29,90 , Der große und der kleine Schritt, 29,90

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