Viel von dem, was über Kryptowährungen zu hören ist, kommt aus dem Globalen Norden oder dreht sich um ferne Inselstaaten, die als nächstes „Kryptoland“ gehandelt werden. Es lohnt sich, mit Edemilson Paraná über dieses Thema zu sprechen: Der brasilianische Soziologe hat viel über den Aufstieg des digitalen Finanzwesens, gerade in Brasilien, geforscht und publiziert.
Paranás neuestes Buch Bitcoin. A utopia tecnocrática do dinheiro apolítico ist 2020 erschienen, eine englische Version soll bald vorliegen. Der Publizist Evgeny Morozov hat es auf Portugiesisch gelesen und mit dem Autor über die Hintergründe des Aufkommens von Kryptowährungen im Zuge der Finanzkrise 2008 und den heutigen Boom von u. a. Bitcoin gesprochen.
Evgeny Morozov: Herr Paraná, was hat die Finanzkrise von 2008 mit dem Aufstieg von Bitcoin, ja von Kryptowährungen, zu tun?
Edemilson Paraná: Es ist wie eine langweilige Ödipus-Tragödie: Der real existierende Neoliberalismus hatte mit einer schweren Krise zu kämpfen, das Establishment war als selbstreferenziell, korrupt und undemokratisch in Verruf geraten. Der Libertarismus der Kryptowährungen inszenierte sich als Opposition, als angeblich „unpolitische“ und „ehrliche“ Form des Geldes.
Wieso Ödipus-Tragödie?
Viele in der Bitcoin-Community vertraten neoliberale Kernideen, Milton Friedmans Monetarismus, Friedrich Hayek, die Rhetorik ist antistaatlich, radikal, konfrontativ. Bitcoin ist der rebellische Sohn des Neoliberalismus, der den Vater, das neoliberale Establishment, nach der Finanzkrise als alten und bösartigen Heuchler entlarvt, der eine Sache predigte, aber mit der Rettung der Banken das genaue Gegenteil tat. Folglich gewann der libertäre Radikalismus von Bitcoin gerade dadurch an Boden, dass er auf technokratische Weise fordert, der Neoliberalismus solle seine Versprechen einlösen: Wettbewerb als Mittel zur Erzeugung von „Innovation“, Verteidigung individuellen Eigentums, Kommodifizierung sowie Privatisierung und so weiter. Bitcoin ist, trotz seiner technisch innovativen Aspekte, nicht viel mehr als die Übertragung dieser Agenda auf den Bereich der Geldverwaltung.
Sie analysieren Bitcoin als eine Kombination dreier ideologischer Strömungen: Neoliberalismus, Anti-Establishment-Populismus, technologischer Utopismus. Aber ergibt das wirklich ein kohärentes gemeinsames Projekt?
Der Kern der Bitcoin-Ideologie ist ein theoretischer Grundsatz, der für die orthodoxe Ökonomie so wichtig ist: Geld ist neutral und muss es bleiben. Es sei ein Geschöpf des Marktes, ein Schleier, ein Schmiermittel, ein technischer Ermöglicher und ein Vehikel für den Warenaustausch. In dieser Sichtweise ist das Geld ein „Ding“, das aufgrund seiner besonderen Eigenschaften seine spezifischen Funktionen auf dem Markt erfüllen muss. Also muss das Geld durch den Markt selbst reguliert werden – oder, besser gesagt, es muss sich selbst regulieren. Dementsprechend wird so etwas wie Inflation als eine tyrannische Art der Aushöhlung des individuellen Eigentums zur Förderung der Leibeigenschaft umgedeutet; sie wird immer als monetäres Phänomen gesehen, das nur durch eine externe Intervention vom – wem sonst? – schrecklichen Staat ausgelöst wird. Der steht für den autoritären Kollektivismus: eine bösartige, ineffiziente politische Invasion in das, was ansonsten die rein technische, funktionale Existenz des Geldes wäre. Dies ist die Fantasie, die viele Neoliberale, Anti-Establishment-Populisten und technologische Utopisten, die hinter Bitcoin stehen, eint.
Zur Person
Edemilson Paraná, 32, arbeitet an brasilianischen Universitäten in Ceará sowie Brasília. Er beschäftigt sich mit Wirtschaftssoziologie, politischer Ökonomie und Sozialtheorie. Sein Buch Digitalized Finance. Financial Capitalism and Informational Revolution ist 2020 auf Englisch beim gemeinnützigen US-Verlag Haymarket Books erschienen. In Vorbereitung ist die Veröffentlichung von Paranás Buch Money and Social Power. A Study on Bitcoin beim internationalen Verlagshaus Brill.
Viele Krypto-Fans insistieren, dass alles Wirtschaftliche sauber getrennt von der Politik sein und von algorithmischen Systemen verwaltet werden sollte, gestützt auf die Gesetze der Mathematik und der Physik – und nicht auf Vertrauen, Politik und all dieses schmutzige Menschliche.
Technologischer Determinismus und wirtschaftlicher Liberalismus gehen oft Hand in Hand, das lässt sich bis zum Ökonomen David Ricardo und seinen Zeitgenossen zurückverfolgen: Märkte und Geld sind eine technische Frage, die nicht durch Politik und Werte korrumpiert werden sollte; wir sollten sie lösen, ohne über Werte, Kultur, Geschichte, Institutionen, gemeinsame Ziele und soziale Bedürfnisse zu diskutieren. Milton Friedman schlug Anfang der 1990er vor, die Federal Reserve durch einen Computer zu ersetzen, der so programmiert ist, dass er die Geldmenge auf der Grundlage von Prognosen zum Bevölkerungswachstum automatisch erhöht. Wirtschaftspolitik oder eine Zentralbank seien dann nicht mehr notwendig.
Klingt sehr Bitcoin-affin.
In gewisser Weise ist es genau das, was Bitcoin in seiner Utopie des programmierbaren Geldes zu verwirklichen versucht hat. Geld ist aber eine soziale Beziehung und keine Sache. Als solches spielt es keine Rolle, ob es physisch ist oder aus Papier, Silber oder Ziffern auf dem Bildschirm besteht: In gewissem Sinne ist es bereits „virtuell“ – sonst könnte es nicht richtig als Geld funktionieren. Was Bitcoin versucht, ist der Einsatz digitaler Technologien, um Geld zu „entvirtualisieren“, das heißt, es von einer „sozialen Beziehung“ in ein „Ding“ zu verwandeln. Die Bitcoin-Ideologie unterscheidet sich da nicht groß von der Vorstellung, die uns die beschert haben, die auf Gold schwören, die „Goldbugs“ oder Metallisten. Es ist kein Zufall, dass ein Großteil der Fachsprache auf physikalischen Metaphern basiert: schürfen, prägen, graben. Bitcoin ist digitaler Metallismus.
Wie ist die Lage in Brasilien?
Ich unternahm 2016 mit meinem Buch Digitalized Finance eine Lesereise durch verschiedene Städte, war in BWL- und VWL-Fakultäten der wichtigsten Universitäten. Das Umfeld dort war immer, selbst zu Zeiten der Diktatur, mitunter sehr progressiv, es gibt eine starke Tradition heterodoxer Ökonomen im Land. Ich debattierte also über die digitale Finanzialisierung – und zwar mit älteren Dozenten, die viel fortschrittlicher dachten als ihre jungen Studierenden. Letztere fragten mich mit leuchtenden Erstsemesteraugen immer und überall nach Kryptowährungen, Bitcoin, einige wollten über Hayek, Ludwig von Mises und die Österreichische Schule sprechen. Bei Vorträgen vor Gewerkschaften und linken Organisationen war es oft ganz genauso.
2016 begann der Aufstieg von Jair Bolsonaro.
Ja, und Finanzmarktakteure empfingen ihn bald mit offenen Armen – auch Krypto-Enthusiasten. Ihre Rhetorik klang sehr vertraut: Alles sei die Schuld der Regierung; alle außer den Hardcore-Neoliberalen seien Kommunisten; das Land stehe am Rande des Sozialismus. Den Krypto-Hype betreiben in Brasilien fast ausschließlich Hardcore-Rechte. Gut dokumentiert ist inzwischen, dass viele von ihnen auf Unterstützung konservativer US-Denkfabriken und libertärer Organisationen angewiesen sind.
Aber wer genau sind denn diese Krypto-Enthusiasten in Brasilien?
Einerseits junge Geeks, Technikbegeisterte, Social-Media-Krieger, Ingenieure, Techniker – die gibt es ja überall, nicht nur in Brasilien. Sie sind meist idealistisch und recht naiv, zu ihnen gesellen sich meist weiße Männer der oberen Mittelschicht in ihren Dreißigern – oft Investoren und Entwickler.
Und andererseits?
Die, die mit Kryptowährungen viel Geld verdienen – sie kommen aus FinTechs und anderen Institutionen des starken, kapitalkräftigen, technologisch sehr fortschrittlichen Finanzsystems Brasiliens und verbreiten das Krypto-Evangelium durch Bücher, Investmentkurse und durch den Verkauf von Krypto-Produkten. Die einen sind offen kriminell, bauen verschiedene Pyramidensysteme auf. Die anderen agieren legal, als Broker oder App-Anbieter, mitunter als Teil des Drehtürsystems, das Bolsonaros Wirtschaftsministerium mit den großen Finanzinstituten Brasiliens verbindet.
Wie verdienen sie ihr Geld?
Sie nutzen eine wachsende Menge von Menschen aus, die jahrelang neoliberalen Reformen ausgesetzt waren und in Zeiten der Krise verzweifelt versuchen, aus ihren schwindenden Ersparnissen etwas Geld zu machen. Viele sind gerade arbeitslos geworden, träumen aber davon, plötzlich reich zu werden, indem sie mit Kryptowährungen spekulieren, oft um ihr sinkendes Einkommen aufzubessern.
Bei Ihnen klingt Kritik an Edward Snowden und Julian Assange an – beide gäben der technologisch-utopischen Lesart von Bitcoin Deckung. Aber rechtfertigt diesen Utopismus nicht, dass WikiLeaks nach der US-Finanzblockade per Bitcoin weiterarbeiten konnte?
Bitcoin wird für solche Zwecke verwendet, das schreibe ich auch in meinem Buch – ich fordere aber auch auf, zu fragen: Wie können wir die vielversprechenden Aspekte von Bitcoin und der Blockchain beibehalten und uns gleichzeitig von der Dystopie unpolitischen, technokratischen Geldes wie einer individualistischen, marktbasierten Form von Regierungsführung befreien? Das ist nicht unmöglich, aber eine große Herausforderung.
Snowden hat die Idee digitaler Zentralbankwährungen, die auch Progressive interessant finden, als große Gefahr bezeichnet.
Snowdens Argumente sind falsch, kurzsichtig und beeindruckend naiv, etwa in Bezug auf Geopolitik und die komplexe Rolle von Staaten. Digitale Zentralbankwährungen können in Richtung Kryptofaschismus führen, wie er das anprangert, klar. Aber das Ganze kann sich auch anders entwickeln. Technologischer Determinismus und individualistischer Liberalismus jedenfalls sind keine Werkzeuge, mit denen man den Komplexitäten dieses Themas gerecht wird – krypto-anarchistischer Himmel oder die Hölle des digitalen totalitären Staates: Das ist zu einfach. Es ist gut, dass es libertäre Snowdens und Assanges gibt. Aber es wäre noch besser, gäbe es fortschrittliche, demokratisch-sozialistische Äquivalente zu ihnen.
Info
In voller Länge und englischer Sprache ist das Gespräch auf the-crypto-syllabus.com zu lesen
Kommentare 9
"Sie analysieren Bitcoin als eine Kombination dreier ideologischer Strömungen: Neoliberalismus, Anti-Establishment-Populismus, technologischer Utopismus." - Ideologie, jedenfalls illusionäre und/oder Herrschaftsideologie ist ja immer eine Bricolage aus Versatzstücken, aus passend zusammengesuchten Ideologemen. So kam eine Art "Antikapitalimus" zeitweise in die NS-Ideologie. Aktuelles Beispiel: die "Quer""denker""bewegung". Die laufen auch quer durch den ideologischen Gemüsegarten und sammeln in ihren Eintopf, was passt.
Kluger Mann, gut geführtes Interview.
"Geld ist aber eine soziale Beziehung und keine Sache. Als solches spielt es keine Rolle, ob es physisch ist oder aus Papier, Silber oder Ziffern auf dem Bildschirm besteht: In gewissem Sinne ist es bereits 'virtuell' – sonst könnte es nicht richtig als Geld funktionieren." - Treffende Sätze. Das mit der "Virtualität" von Geld bzw. Kapital ist nur eine Andeutung, aber eine höchst wichtige.
Und spannend die Nüchternheit gegenüber der Assange-Euphorie.
Da fehlt mir doch das alles entscheidende Thema in dem Interview.
Der Bitcoin scheint in erster Linie entstanden zu sein um den Klima-GAU noch zu beschleunigen
Zum Bezahlen taugt der Bitcoin eh nicht, es sind hauptsächlich Kriminelle aller Art, die ihn nutzen.
Vielleicht noch als Asset oder zur reinen Spekulation.
https://www.wiwo.de/my/finanzen/geldanlage/bitcoin-das-kryptomarketing-/27096102.html
Bitcoin verbraucht so viel Strom wie Argentinien mit seinen 45 Millionen Einwohnern. Mit exponentiellen Zuwachsraten.Der Strom dafür kommt hauptsächlich aus den dreckigsten Kohlekraftwerken der Welt. Und wenn davon geredet wird, das irgendwann ja uch grüne Energie eingesetzt wird, heißt das nur, dass diese Energie woanders fehlt, was über Jahrzehnte noch so bleiben wird.
Eine einzelne Bitcoin-Transaktion verursacht so viel CO2 wie rund 800.000 Kreditkarten-Überweisungen.Hinzu kommt der durch die Serverfarmen entstehende Elektroschrott. von zigtausend Tonnen pro Jahr. Die Server müssen ja alle zwei, drei Jahre ausgewechselt werden. Und wo landet der wohl?
Der Bitcoin ist der schwachsinnigste, schädlichste und überflüssigste real existierende Anachronismus.
Katastrophaler Unsinn im Zeitalter der Klimakatastrophe.
Und gehört sofort reguliert, eingestampft und auf seinen inneren Wert "Null" korrigiert.
Achwas, Bitcoin gehört die Zukunft: Selbst Jan Hofer (Ex-Tagesschau) macht mit.
Na, wenn das kein Argument ist!
Die Frage nur: wofür - oder wogegen?
Ein früherer Nachbar von mir hat mit Bitcoin 90% seines Lebens verzockt. Wer das schafft, hat keine Zukunft mehr. Er kann froh sein, wenn ihm noch ein Rest Gegenwart bleibt.
Ansonsten stimme ich im Wesentlichen @interstellar zu.
Eine nicht staatliche Währung ist durchaus eine interessante Sache, ob man das in der Form Bitcoin realisieren muss, sei mal dahingestellt. Ihr Kommentar greift in diesem Sinne zu kurz.
Der Jan Hofer dürfte eher einen Kantinenwitz gerissen haben, ohne Ahnung von Kryptozeugs zu haben.
Und ob der bedauernswerte Nachbar sich nicht auch mit realem Hartgeld verzockt hätte?
Ein nur schwerlich widerlegbarer Einwand.
Eine geneigte Zockerseele ist kreativ genug, die zu ihr passende - oder unpassende - Droge zu finden.
Eine nicht staatliche Währung kann durchaus eine interessante Sache sein, da gebe ich Ihnen durchaus Recht, Stefan.
Wie ich das mal irgendwo gelesen habe, sind fast alle staatlichen Währungen der Geschichte irgendwann mal wertlos gworden.
Man sieht es ja grade auch wieder, wie diverse Währungen an Wert verlieren.
Persönlich würde ich als Währung etwas bevorzugen was selbst einen intrinsischen Wert hat: Gold, Silber o. ä. Was man anfassen kann.
Oder durch einen entsprechenden Wert gedeckt ist.
Nullen und Einsen oder Papier sind ja nichts weiter, als das was was ihnen der Mind, die Politik und Psychologie grade zumisst.
Vielleicht muss man den Wert des Edelmetalls welches grade in der Welt existiert, vervielfachen.
Da bin ich wohl altmodisch.
"Schon eine 30-prozentige Golddeckung könnte zur Stabilisierung genügen, wenn das Recht auf Tausch auf die Mitglieder des IWF beschränkt würde. Historisch genügten den USA und dem Deutschen Kaiserreich eine Golddeckung in ähnlicher Höhe, um ihre Währungen über Jahrzehnte nahezu inflationsfrei zu halten, bis äußere weltpolitische Ereignisse eintraten."
https://think-beyondtheobvious.com/das-monetaere-endspiel-wird-vorbereitet-ii/
Wenn's um geld als zahlungsmittel geht, nutz "golddeckung" oder ähnliches nichts. Denn im täglichen geldgebrauch ist die entgegennahme von geld im austausch gegen eine waren nichts anderes als das (geglaubte) versprechen, dieses geld jederzeit selbst wieder in eine ware verwandeln zu können (die mensch ggf. essen kann).
Wenn es ums überleben geht, also um die erlangung und den konsum von lebensmitteln, ist selbst gold am ende nutzlos, weil menschen es nicht essen können. Stabiles geld gibt es in kapitalistischen geldwirtschaften (wie der unsrigen) nur, wenn produktion stattfindet und die warenzirkulation funktioniert - das wissen unsere grosseltern noch gut aus der zeit unmittelbar nach dem zweiten weltkrieg, wo güter gegen güter, aber nicht gegen geld, getauscht wurden.