Hygienedemo Ein Samstagnachmittag in Berlin unter Linken, Rechten und Verwirrten, die gegen das Virus demonstrieren. Können wir bitte einfach den Klimawandel zurück haben?
Szene von der „Hygiene-Demo“ gegen die Corona-Schutzmaßnahmen am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin, 25. April 2020
Foto: Adam Berry/Getty Images
Deutschland, Berlin, Samstag, der 25. April 2020, 15 Uhr 30 nachmittags. In Deutschland, Europa und der Welt herrscht die Pandemie und nicht mehr Politik, Wirtschaft, Reptilienwesen oder die internationale Hochfinanz. Oder doch und jetzt erst recht?
Schulen, Kitas, Restaurants, Theater, Kinos, Bars und auch sonst alles wurden geschlossen und werden langsam wieder geöffnet, der Sommerurlaub wurde verboten, ab Montag herrscht Maskenpflicht in den öffentlichen Verkehrsmitteln Berlins. Ich gehe die Schönhauser Allee hinunter. Da vorn, am Rosa-Luxemburg-Platz, sieht und hört man sie schon, die Menschenmenge. Ich bin unterwegs zur „Nicht ohne uns“- Demo, die sich gegen die Einschränkung bürgerlicher Freiheitsrechte im Namen von Corona richtet und sich auf
d sich auf das Grundgesetz beruft.Das erste Gefühl ist Angst. Ich gehe zu einer ungenehmigten Demo, zu einer Menschenansammlung, ich begebe mich in einen Infektionsherd, ich werde das Gesetz brechen. Was, wenn ich mich anstecke? Was, wenn ich jemanden anstecke? Was, wenn jemand mich erkennt? Was, wenn sie mich verhaften? Aber ich bin Vertreterin der Presse, ich bin die vierte Gewalt. Ich darf dorthin, ich muss dorthin, es ist meine Pflicht.Ich spüre nicht nur Angst, sondern auch dieses Kribbeln. Wie damals in den 90ern, als es „Heraus zum revolutionären Ersten Mai!“ in Kreuzberg ging. Dieses diffuse Dagegensein, diese diffuse Wut. Aber auch Jungsein, Freunde treffen, Bier trinken. Und darauf warten, dass sie irgendwann Tränengas schießen und man rennen muss.Aber ich bin nicht mehr jung, ich bin alt, oder höflich gesagt: erwachsen. Solche Assoziationen schicken sich nicht. Auf den letzten Metern setze ich mir die Atemschutzmaske und die Sonnenbrille auf. Ich will auf keinen Fall gegen das Infektionsschutzgesetz verstoßen, ich will auf keinen Fall erkannt werden, denn ich begehre, nicht schuld zu sein. Dann bin ich da. Die Rosa- Luxemburg- Straße ist mit rot-weißen Gittern versperrt. Davor treten sich Menschen auf die Füße. Ich gehe mittenrein. Fühle mich seltsam, so komplett verschleiert, mit Mundschutz und Brille, bin aber dadurch unsichtbar. Ich schwebe so hindurch, bemüht, nirgendwo anzustoßen, aber auch: niemandem zu nahe zu kommen.Das sei eine Querfront-Demo, habe ich gehört. Linke Linke und rechte Rechte würden sich hier mischen, angeblich für das Grundgesetz, aber in Wirklichkeit für Verschwörungstheorien und gegen die Regierung, und eigentlich seien das antidemokratische Nazis und so weiter. Ja, die Rechten. Auch wie ein Virus. Unsichtbar, unberechenbar, gefährlich, ansteckend. Ich schwebe herum, von hier nach da nach dort, und sehe, es sind alle da. Jung, alt, Punk, Normalo, welche mit Kindern, Männer, Frauen jeden Alters. Hippies und Spießer, schwarzer Block und tätowierte Lichtenberg-Hools. Sie alle stehen irgendwie ratlos, um die Polizeibarrieren herum. Der Platz vor der Volksbühne ist ringsherum abgesperrt.„Die Antifas werden mit Bier bezahlt“„Wenn wir nicht auf den Rosa-Luxemburg-Platz dürfen, demonstrieren wir eben hier“, sagt eine Frau. Stimmt. Ich verstehe den Sinn der Absperrungen auch nicht ganz. Ich laufe durch die Nebenstraßen, suche einen Zugang; bin, wie alle eigentlich, auf der Suche nach einem Kondensationspunkt. Manchmal bildet sich einer, manchmal passiert was. Dann fängt einer laut an zu reden und man schart sich um ihn. So sind die Menschen, denke ich, man kann es hier genau beobachten, sie wollen hören und folgen. Ich könnte jetzt laut irgendwas reden und hätte sofort Zuhörer.Ich könnte jetzt und hier eine Bewegung gründen. Aber was denn für eine?Vor der geschlossenen Bar 3 steht die Antifa und jemand wettert durchs Megaphon gegen die Demoveranstalter. Sie hätten sich bisher überhaupt nicht von Ken Jebsen und der AfD distanziert. „Doch!“, ruft einer dazwischen. „Alerta alerta, Antifaschista!“ wird in Sprechchören gerufen. Eine blondierte Frau mit Handy auf Selfiestick filmt die Szenerie und wird verscheucht. Als ich mich entferne, um wieder Richtung Rosa-Luxemburg-Platz zu gehen, spricht mich ein Mann an. Er mag um die 50 sein, seine Augen sind weich und verletzlich. Er hätte erst gestern Nacht von der Demo erfahren. Ich solle mir die KenFM Folge auf YouTube über Meditation ansehen. Besonders den zweiten Teil. Es sei sehr sehr wichtig.„Ja, mache ich, auf jeden Fall“, antworte ich und wünsche ihm alles Gute. Wozu sollte ich mich mit ihm streiten? Ich will, dass er klar kommt, dass er heil aus der Sache rauskommt. Er tut mir leid, mit seinen sanften, manischen Augen.Dann sehe ich die Blondierte am Absperrgitter am Ende der Linienstraße zur Rosa-Luxemburg-Straße hin wieder. Sie sagt im Gespräch zu Umstehenden: „Die Antifas werden bezahlt, mit kostenlos Bier, und überall hingekarrt. Das war in der Flüchtlingskrise schon so.“„Jaja“, antwortet ihr einer. „Wer nicht dem Mainstream folgt, ist rechtsextrem.“Am Rande der Linienstraße und an vielen anderen Orten in der Gegend sitzen Menschen mit geschlossenen Augen auf dem Boden. Im Schneidersitz, oft mit Kopfhörern auf und die Hände meditativ gefaltet. Vor oder neben sich das Grundgesetz, oder ihren Pass, oder nur eine kleine Kerze. Sie nehmen teil an der „Mahnwache für das Grundgesetz“, welche als friedlicher Protest auf der „Nicht ohne uns“-Webseite propagiert wird.Die mag ich irgendwie. Überhaupt bin ich plötzlich so gerührt. Sie und all die anderen hier, ob links, ob rechts, ob wirr, ob mit Durchblick. Sie demonstrieren gegen ein Virus! Gegen die Natur! Ich kann sie so gut verstehen. Aber es ist auch irgendwie kindlich. Obwohl, wenn wir ALLE zusammen aufstehen und die Regierung stürzen, vielleicht wird Corona davon verschwinden? Ich will mir das schöne Gefühl bewahren und lese lieber nicht so genau, was auf den Transparenten steht. Oder doch. Ich muss ja, es ist meine Pflicht.„Übrigens, ich bin der Johannes“„Gebt Gates keine Chance“, „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, „Frau Merkel, was geht hier vor? Frau Merkel, Corona ist es nicht!“Ich würde lieber nicht so genau hinhören, was die Leute miteinander reden. Aber deswegen bin ich schließlich hier und ich darf meine Gesundheit doch nicht umsonst aufs Spiel setzen. Was soll schon passieren? Die Stimmung ist freundlich. Menschen kommen miteinander ins Gespräch.„Jetzt kommen sie hier an, mit ‚Schweden hat die höchste Sterblichkeitsrate‘. Übrigens, ich bin der Johannes.“ Ein Rentner mit Fahrrad steht mit einem jüngeren Mann zusammen. „99 hamse Aluminium jesprüht“, sagt der Rentner. Von der Torstraße her kommen plötzlich Rufe: „Wir sind das Volk!“ Ist da was los? Ich eile hin. Eine Gruppe intoniert: „Die Gedanken sind frei.“Wer hat denn was anderes behauptet, um Gottes Willen?„Wir brauchen nur bis an die Membranen ran, wir müssen nicht eskalieren“, sagt ein schwarz gekleideter Typ, der mit weißer Kreide ein Viereck um sich herum auf den Boden gemalt hat, und der genau an der Ampel steht, da wo sich alle drängen, die über die Torstraße gehen möchten. „Abstand!“, ruft er jedem zu, der aus Versehen in das weiße Geviert tritt.Oh, wie dünn ist das Eis heutzutage! Das sind nicht alles Rechte oder Linke. Das sind Verwirrte, Ängstliche, die ein Ventil brauchen und deswegen hier sind. Geht es uns nicht allen so, in diesen Zeiten? Aber jetzt brauche ich auch ein Ventil. Ich muss hier raus. Schnell weg, ab ums Eck. Ich reiße mir den Mundschutz vom Gesicht, schiebe mir die Brille ins Haar und werde wieder zum Menschen.In der Neuen Schönhauser Straße wartet die Freiheit auf mich. Alle Läden haben geöffnet. Dicht an dicht stehen sie auch hier. Nicht um zu demonstrieren, sondern um zu shoppen. Ich reihe mich vor dem Szenebäcker ein und hole mir das Hausbrot und einen Latte Macchiato im Pappbecher. Shopping ist Leben. „Ich will kein Corona mehr, ich will den Klimawandel zurück!“, möchte ich laut rufen. Ich will das alles nicht mehr. Ich will Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – und nie wieder Pandemie! Vielen Dank, bitte bleiben Sie krank.
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