Bitte keinen Ratgeber über Karl Kraus schreiben: Jonathan Franzen
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Dass Karl Kraus jemanden wie Jonathan Franzen verachtet oder bestenfalls ignoriert hätte, kann als unbeweisbare Tatsache gelten. Als solche spricht sie aber nicht gegen Franzens neues Buch. Der bekannte US-amerikanische Autor hat einige der Essays des 1936 in Wien verstorbenen Schriftstellers und Publizisten übersetzt und mit langen Fußnoten versehen, in denen er Kulturkritik mit eigenen autobiografischen Skizzen verbindet. Die Eindrücke, die Franzen von seiner Zeit als Austauschstipendiat in Westberlin Anfang der 80er Jahre erinnert, die unterhaltsamen Kommentare zu Berliner Punks, zum Antiamerikanismus der Friedensbewegung und zu den Studienbedingungen an der Freien Universität knüpfen an seinen Erzählband Die Unruhezone von 2006 an.
Zwar stellt Franzen
war stellt Franzen die Bedeutung von Kraus’ Schriften für seine Biografie heraus, aber er kann weder zur Kraus-Philologie noch zur Kritik des digitalen Schrifttums etwas Fundiertes beitragen. Sein Unbehagen an der Gegenwart bleibt auf einem recht bescheidenen argumentativen Niveau. Anstatt sich für die Verbreitung von Kraus’ Denken einzusetzen, zementiert es Franzen in einem literarischen Denkmal.Sofern die Fußnoten in dem Band philologisch sind, wurden sie zumeist vom US-amerikanischen Germanisten Paul Reitter verfasst; Franzen zitiert aus der E-Mail-Korrespondenz, die die beiden anlässlich des Projekts geführt haben. Diese Fußnoten tragen tatsächlich dazu bei, die Essays zugänglicher zu machen. Als ehrenwert erweisen sich die Hinweise auf die antisemitischen Neigungen in Kraus’ Frühwerk. Zudem fasst Reitter dessen Kulturtheoreme eloquent zusammen. Allerdings gibt es hier ein Problem für die deutsche Ausgabe des Kraus-Projekts. Liest man die übersetzten Aufsätze „Heine und die Folgen“ sowie „Nestroy und die Nachwelt“ isoliert, wirken sie unzugänglicher als im Original. Kraus selbst hatte zu Lebzeiten einen Essayband zusammengestellt, der alle nun von Franzen übertragenen Texte enthält: Untergang der Welt durch schwarze Magie. Kraus hat sich intensiv mit dem Journalismus seiner Zeit auseinandergesetzt, seine Überlegungen zum Konzept des Feuilletons und zur Reportage werden im Rahmen des ganzen Essaybands gut verständlich ausgeführt.Lieblingsfigur AnalogieDezidiert weist Jonathan Franzen auf witzige Stellen im Kraus-Text hin oder erklärt Witze sogar – und zerstört sie damit natürlich. Seine Lieblingsdenkfigur ist die Analogie. Die Konsequenzen, mit denen Heinrich Heine die Schreibweise des französischen Feuilletons in den deutschen Kulturkreis importiert hat, seien so ähnlich wie diejenigen, mit denen in den 1980er Jahren der Strukturalismus aus Frankreich in die USA schwappte. Die Situation Wiens im Jahr 1910 sehe der Situation Amerikas 2013 ähnlich. Deswegen sei Kraus interessant. Ein Teil von Kraus’ Werk lässt sich jedoch nur deshalb mit Gewinn lesen, weil die Texte keine Guckfenster in das Wien um 1910 sind. Er hatte einfach in Dingen recht, die oft noch nicht selbstverständlich waren.Seinen eigenen Anspruch, die Aktualität von Kraus herauszuarbeiten, unterläuft Franzen durch langweilige Überlegungen über Kraus‘ psychische Konstitution und halbgelehrte Darstellungen deutsch-jüdischer Identitätsproblematiken im frühen 20. Jahrhundert. Dabei wird bedenkenlos von den germanistischen Stammtischfloskeln ausgegangen, dass Kraus „wütend“, voller „Hass“ war und ein „großes Ego“ hatte. Franzen unterscheidet nicht zwischen der literarischen Person, die Kraus in den Essays vorführt, und dem Menschen, der 1874 in eine wohlhabende jüdische Familie geboren wurde.Fast ausschließlich wird Kraus als Polemiker gegen das liberale Zeitungswesen vorgestellt, verkauft als Kritiker liberaler Medien überhaupt. Als ob Presse, Fernsehen, Internet im Grunde das Gleiche wären. Kraus‘ Kritik am Zeitungswesen aufs Internet zu übertragen, ist aber problematisch: Kraus argumentierte stets ausführlich mit Verweisen auf die technischen Grundlagen des Zeitungswesens – das Drucken. Die technische Faktizität bei Fernsehen und Internet ist eine andere. Überdies bestand Karl Kraus‘ Leistung als Satiriker in hohem Maß darin, ideologisches Unheil, das Intellektuelle wie Gottfried Benn, Hugo von Hofmannsthal oder Hermann Bahr von sich gaben, zu archivieren und dann zu zitieren. Das Internet, von dem zutreffend gesagt wird, es würde nicht vergessen, archiviert dagegen das Unheil selbst, das in ihm veröffentlicht wird. Ein Archiv des intellektuellen Versagens und ideologischen Unwesens, wie es Kraus geführt hat, wäre heutzutage überflüssig. Das Zitat hat seine satirische Sprengkraft verloren.StudienratsrhetorikEs gibt bessere Gründe, Kraus’ publizistisches Werk zu studieren. Die Schmähungen gegen Franz Werfel und Stefan Zweig sind Beiträge zu einer Theorie der Kulturindustrie, die über Spottreden gegen Reality-TV und die AOL-News hinaus ihre größte Verderbtheit dort festmacht, wo sie sich nach der Erkenntnis von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno als „Kathedrale des gehobenen Vergnügens“ gibt. Karl Kraus’ Sittlichkeit und Kriminalität liefert noch immer hinreichende Argumente gegen die von der EU angestrebte Prostitutionspolitik oder Alice Schwarzers jüngste Kampagne samt dem prominenten Mob, der sie dabei unterstützt. Aufsätze wie „Das österreichische Selbstgefühl“ oder „Das technoromantische Abenteuer“ richten erstklassige Angriffe auf den modernen Patriotismus. Es ist gut, daran erinnert zu werden, dass Patriotismus einmal nicht nur das Schwenken von Fähnlein während einer Fußballweltmeisterschaft bedeutete, sondern „die Hoffnung auf das Gelingen eines Gasangriffs“ war.Franzens Kommentare zu Twitter oder Trends im Büchermarkt mögen zutreffende Beobachtungen enthalten, wirken jedoch wie ein paternalistisches Gängelband. In der Rhetorik eines Studienrats spricht der Verfasser der Korrekturen über Aspekte eines freudianisch inspirierten Menschenbilds als „verlorene“, „vergessene“ oder „in Bedrängnis geratene“ Werte. Die gegenteilige Beobachtung wäre deutlich scharfsinniger gewesen: Trivialisierte psychoanalytische Erkenntnisse sind – in Form von Ratgeberliteratur – weit verbreitet und bringen als unverstandenes und veraltetes Wissen die Gefahr, sich darin zu entfremden.Zu einer Karl-Kraus-Pointe schreibt Jonathan Franzen, man dürfe solche Dinge in den Vereinigten Staaten heute nicht sagen. Welche Gesetze oder welcher organisierte Mob würde einen wohl daran hindern? Und Jeff Bezos, der Gründer und Präsident von Amazon, möge nicht unbedingt „der Antichrist“ sein, sehe aber „eindeutig aus wie einer der vier apokalyptischen Reiter“. Die profitorientiert liberale Gesinnung eines Buchhändlers, der einen Autor trotz Beleidigungen gegen die eigene Person verkauft, sei hier ausdrücklich gelobt. Dank ihr trägt Jeff Bezos mehr zu kultureller Diversität bei als Jonathan Franzen, solange der altbekannte, abgestandene Ressentiments in einem Buch zusammenfasst.Einmal beklagt Jonathan Franzen das Eindringen in seine Privatsphäre, wenn in den Überschriften der AOL-News ein „wir“ steht, in dem er als Leser eingeschlossen wird. Gleichzeitig benutzt er diese den Leser einschließende Wir-Form aber selbst. Er mag es nicht zugeben, doch der Eindruck entsteht, dass Franzen sich schlicht nach der Zeit vor dem Internet zurücksehnt.Vor dem Hintergrund dieses Ressentiments müssen die autobiografischen Abschnitte vielleicht als Teil seines publizistischen Programms verstanden werden: Eine Welt ohne Internet ist möglich – sie ist ja schon einmal da gewesen. Dabei muss man das Internet schon aus diesem einen Grund gegen Jonathan Franzen verteidigen: Beim Projekt Gutenberg kann man auch die Schriften von Karl Kraus kostenlos herunterladen, die man im Buchhandel nicht mehr als günstige Studienausgabe erhält.Placeholder infobox-1
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