Bitte leicht hardboiled

Bad Reading Auch in einem Himmel aus Bestenlisten, sensiblen Autorenporträts und nützlichen Buchtipps braucht der Mensch klare Worte: Andreas Merkels neue Kolumne
Ausgabe 11/2017

In Zeiten von Fake-Prosa und Authentizitätswahn (Zigaretten, Kaffee, authentischer Knausgård) kommt der selbsterklärte Onkel der deutschen Popliteratur mit Alles Lüge eigentlich richtig. In dem keck Michel Houellebecq gewidmeten Werk schickt der Welt-Autor und taz-Blogger Joachim Lottmann in altbewährter „Auf der Borderline nachts um halb eins“-Manier sein Alter Ego Johannes Lohmer durch ein Jahr Euro- (und Ehe-)rise. Er ist mit einer linken Politikjournalistin verheiratet, „körperlich überaus attraktiv, seelisch aber kapriziös“. Ihr folgt er nach Athen (wo es wie DDR riecht), mit ihr streitet er über den „Zweiten Faschismus“ (der Islamismus). Das grandiose Desinteresse an allem, was nur entfernt Handlung sein könnte, macht den Sound aus, der leider immer nur kurz trägt.

Jedes Medienthema, das nicht bei drei auf dem Baum war (Silvesternacht, Brexit, Ronja von Rönne), wird einer erzählerischen Billigbeerdigung zugeführt. Selbst der alte „Jugendfreund“ und Intimfeind Rainald Goetz wird für seine Büchner-Preisrede nur kurz als Gewaltlyriker angeteast, dann gelangweilt fallen gelassen. Schade, dass nach dem alten Goetz-Diktum Lottmann längst nicht mehr der böse rumlügende outsider on the Inside ist, vor dem man Angst haben müsste. Auf die Frage, ob sein Leben eher ein Roman oder ein Sachbuch wäre, antwortete Lottmann mal genial: „Auf jeden Fall ein Sachbuch. Romane erleben Mitbürger, die ihr Leben nicht steuern.“ Dafür waren das jetzt eindeutig zu viele Romane.

Andreas Merkel, Jahrgang 1970, lebt als Romankritiker und Torhüter der Autorennationalelf (Autonama) in Berlin. Mit der Fußballfibel – 1. FC Köln (Culturcon Medien) hat er das „Anti-Fußballbuch des Jahres“(11 Freunde) geschrieben. Merkels Lieblingsautoren sind Frank Ocean und Roberto Bolaño

Was macht die Enkelgeneration? Dem einstigen Wunderkind Benjamin Lebert (Crazy, 1999) müsste inzwischen genug Schlimmes passiert sein, um mal was draus zu machen: mit 16 einen Weltbestseller geschrieben. Von Christian Kracht wegen seines Outfits beleidigt worden („Mit solchen Schuhen kann man kein Autor sein“, ich tippe auf Vans). Mit einer fiesen Springer-Redakteurin beim Interview zu flirten versucht, die sich hinterher darüber mokierte, er hätte ihr die Tür aufgehalten und keinen Mumm, mal wirklich über sich selbst zu schreiben. Daraufhin zog sich Lebert (35) erst mal zurück und arbeitete „eine Zeitlang“ für eine Kinderhilfsorganisation in Nepal, wie uns der Klappentext seines neuen Romans Die Dunkelheit zwischen den Sternen mitteilt. Das wäre aller Ehren, aber eben auch keiner weiteren Zeile wert, wenn Lebert damit nicht so symptomatisch für so viele Romane der dauerjungen Generation „Altklug mit Anliegen“ in die Relevanzfalle tappen würde. In einer pseudolyrischen Sprache voller falscher Tagebuchlakonik versucht Lebert sich in die sicherlich furchtbaren Schicksale von drei indischen Kindern einzuträumen. Es endet in einem Erdbeben. Kein Zitat. Auf der wirklich noch schlimmeren U4 des schon schlimmen Titels und Covers sollte Lebert wohl noch seinen Senf zur Authentizitätsdebatte abgeben: „Literatur schafft es nie, an die Wirklichkeit heranzureichen. Aber Wirklichkeit und Literatur haben eines gemeinsam: Sie verändern uns.“

Was sagt es über die vielleicht am Ende gar nicht so spannende Breaking-News-Gegenwart aus, wenn sich einer der straightesten Autoren des Landes entschließt, mal lieber einen historischen Roman einzustreuen? Denn das hat der Spiegel-Mann Kurbjuweit jetzt getan. Die Freiheit der Emma Herwegh will am Beispiel einer reichen Bürgerstochter, die im Paris von 1848 (Heine! Marx!) die Dichterliebe ihres Lebens skandalheiratet, die dann aber lieber mit einer anderen durchbrennt, die großen Frauenthemen in die Gegenwart rüberretten. Das klingt dann so: „Emma zog sich feste Schuhe und einen Mantel an und ging auf die Straße. Sonne, vor ihrer Tür war es ruhig, aber in der Ferne hörte sie Lärm, Geklapper, Stimmen. Sie ging hin. Ein Mann schrie Attention, sie sah nach oben und eine dünne Matratze fliegen …“

Das alles liest sich wie für den 11.-Jahrgang-Deutsch-Grundkurs, der die Konflikte interpretieren darf, gern unter Zuhilfenahme der Bücher, bei denen Kurbjuweit – „Bücher entstehen durch Lesen, dieses ganz besonders“ – sich am Ende bedankt. Bloß: Wenn ich Spiegel-Chefredakteur wäre und meine edlen Schreiber wie Osang, Feldenkirchen oder eben Kurbjuweit würden nicht jede Sekunde ihrer schreiberischen Existenz auf die Verbesserung ihres eigentlichen Tuns – Schreiben von möglichst super Geschichten für den Spiegel – verwenden, sondern stattdessen lieber Romane schreiben, würde ich sie sofort feuern. Sowieso: Wenn ich wirklich so viel Word-Overload hätte, dass ich dafür meinen zugegebenermaßen auch recht monothematisch-geisteskrank-anstrengenden Bombenjob (Schreiben über die Gewichtsprobleme von SPD-Spitzenkandidaten) riskiere, dann bitte über den aktuellen heißen Scheiß, der vielleicht not so fit to print ist und eben Nicht die ganze Wahrheit – wie Kurbjuweits große Müntefering-Lovestory mal hieß.

Und zu guter Letzt doch noch ein Tipp. Könnte auch ein Album mit B-Seiten von Radiohead sein: Homesick for Another World. Tatsächlich handelt es sich um die gerade im englischen Original erschienene Storysammlung von Ottessa Moshfegh. Moshfegh ist eine iranisch-kroatisch-stämmige Bostonerin, die mal Konzertpianistin werden wollte, dann dem Alkohol verfiel, mit dem Schreiben anfing, in den Arbeitspausen seilspringt. Mit genau dieser Mischung aus Hardboiledness und Leichtigkeit gelang ihr nach zwei bemühten historischen Romanen (!) nun der große Wurf. Ohne falsches Posertum beschreibt sie eine amerikansiche Abgefucktheit, die längst keine Lösungen mehr kennt, dafür auch keine Larmoyanz.

Slumming handelt von einer Ich-Erzählerin Anfang 30, die als Lehrerin am Bildungssystem verzweifelt. Nur in den langen Sommerferien blüht sie auf, sie hat sich in der runtergekommenen Provinz ein Haus gekauft, das selbst sie sich leisten konnte. Wie ein Elendstourist im eigenen Land genießt sie hier Urlaub vom American Ego, von ihrem Exmann, den Telefonaten mit ihrer Schwester. Am Busbahnhof bei den „Zombies“ versorgt sie sich mit Heroin und Crack. Zehn Dollar für ein Tütchen, den Rest des Tages driftet sie weg oder vögelt mit Clark, der ihr Haus für den Rest des Jahres untervermietet. Clark ist College-Programmierer, versucht sie mit Literatur zu beeindrucken, wird aber in wenigen Sätzen erledigt (... kann keine nach 1993 geschriebene Fiktion lesen, weil da William Golding gestorben ist). Clark checkt außerdem nicht, dass die Zombiedealer am Busbahnhof über magisches Wissen verfügen. Sie verkaufen ihr immer genau Stoff, der sie immer noch so gerade durch den Sommer kommen lässt.

Und Clark? „Too concerned with his own intelligence to see the bigger picture.“ Vielleicht passend als Schlusswort für unser aller Amerika-(Miss-)Verständnis in diesen Tagen.

Info

Alles Lüge Joachim Lottmann Kiepenheuer & Witsch 2017, 352 S., 12 €

Die Dunkelheit zwischen den Sternen Benjamin Lebert S. Fischer 2017, 304 S., 20 €

Die Freiheit der Emma Herwegh Dirk Kurbjuweit Hanser 2017, 336 S., 23 €

Homesick for Another World Ottessa Moshfegh Jonathan Cape 2017, 304 S., 15,95 €

Die Bilder des Spezials

Peter van Agtmael, geboren 1981 in Washington D.C., ist Mitglied der berühmten Fotoagentur Magnum und mit einigen wichtigen Preisen ausgezeichnet worden. Van Agtmaels soeben erschienener Fotoband Buzzing at the Sill (Kehrer-Verlag, 192 Seiten, 39,90 Euro), aus dem die Bilder unserer Beilage stammen, ist voller oft dunkler, poetischer Arbeiten, in denen die USA wie ein unwiderruflich zerrissener Ort erscheinen. Den mysteriösen Titel verdankt Buzzing at the Sill einem Gedicht von Theodore Roethke, In a Dark Time („My soul, like some heat-maddened summer fly, keeps buzzing at the sill“). In der Auseinandersetzung des Fotokünstlers mit seinem Land sind immer auch ganz persönliche Stimmungen zu spüren: Unsicherheit, Angst und Hilflosigkeit angesichts einer absolut ungewissen Zukunft. Und gleich daneben kocht die Wut

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