Die Linke im Privatisierungsdilemma Ob Wirtschaftsbereiche verstaatlicht, progressiv entstaatlicht oder zivilgesellschaftlich organisiert werden sollten, ist zuallererst eine Frage der Zweckmäßigkeit
Prinzipiell ablehnen oder den Einzelfall prüfen? Die Privatisierung öffentlicher Unternehmen ist in der Linken ein heftig umstrittenes Thema. Allzu häufig wird dabei vergessen, welche Kriterien in diesem Streit zum Zuge kommen sollten und welche volkswirtschaftlichen Argumente für ein gemischtes System sprechen, das in den ersten Nachkriegsjahrzehnten als die beste Organisationsform für einen modernen Kapitalismus galt. Die Privatwirtschaft sollte damals ergänzt und auch teilweise ersetzt werden durch einen bedeutenden öffentlichen Sektor. Nicht zuletzt amerikanische Lehrbücher haben viel dazu beigetragen, dass die "Mixed Economy" allgemein akzeptiert wurde.
Diese Idee ist nicht auf eine einzige ökonomische Lehrmeinung beschränkt. Selbst die
Selbst die Neoklassik, der große Gegenspieler des Keynesianismus, macht bei aller positiven Haltung zum Kapitalismus doch Fälle von systematischem Marktversagen aus, etwa bei Leistungen, an denen keine Eigentumsrechte definiert werden können, ohne die aber eine Wirtschaft nicht funktionieren kann. Der Leuchtturm war das klassische Beispiel: Von seiner Nutzung kann auch der nicht ausgeschlossen werden, der für seinen Betrieb nicht zahlt. Man ging damals noch einen Schritt weiter und bestimmte so genannte meritorische Güter, für die zwar das Ausschlussprinzip durchgesetzt werden kann, aus politischen Gründen aber nicht durchgesetzt werden soll. Ein passendes Beispiel ist die allgemeine Schulpflicht bei kostenlosem Schulbesuch. Damit akzeptieren Ökonomen der neoklassischen Denkrichtung den Staat überall dort, wo die Privatwirtschaft keine Leistungen erbringen kann oder wo die Ergebnisse nicht zufriedenstellend sind.Der Neoliberalismus, die heute dominierende Lehrmeinung, lässt das nicht gelten. Zwar wird eingeräumt, dass der Markt versagen kann, aber der Staat, so die Behauptung, versagt bei derselben Aufgabe noch mehr. Nicht Markt-, sondern Staatsversagen ist demnach das Problem. In den weiterführenden Überlegungen ist dann von Demokratieversagen die Rede. "Weniger Demokratie wagen" ist dann die Losung, wie Edmund Stoiber zu verstehen gibt.Keine Angst vor gemischten SystemenGegen die heute übliche Vorstellung des unbeschränkten und unbedingten Marktes hatten konservative Wirtschaftswissenschaftler der Nachkriegszeit auch ein Wettbewerbsargument parat. Märkte, so argumentierten sie, sollen Einkommen entsprechend der Leistung zuteilen. Einkommen ohne wirtschaftliche Gegenleistung sei nicht hinnehmbar. Deshalb akzeptierten sie staatlichen oder genossenschaftlichen Wohnungsbau, der die Mieten und damit die Grundrente kontrolliert, also das leistungslose Einkommen der Grundeigentümer, das nur als Folge von knappem Boden in privatem Besitz entsteht. Gegenüber solchen Korrekturen des Marktprozesses waren sie sehr aufgeschlossen. Denn bei öffentlichem oder genossenschaftlichem Eigentum am Boden kann auf Grundrente verzichtet werden. Dies sorgt für Wettbewerb und erzwingt auch in der privaten Wohnungswirtschaft geringere Mieten. So wird die Grundrente durch den sozialen Wohnungsbau in Schach gehalten. Wohngeld kann diese Funktion nicht erfüllen, weil es letztlich bei den Grundeigentümern landet, die - ohne Wohngeld - eine geringere Grundrente hätten hinnehmen müssen.Preisregulierung mithilfe des öffentlichen Sektors war allerdings nicht nur bei der Wohnungswirtschaft das Ziel. Bei der Wasser- und Stromversorgung, auch bei den Eisenbahnen, wurde aufgrund der Produktionstechnik ein natürliches Monopol unterstellt. Ein Wettbewerb mit vielen Anbietern würde hier zwar Monopolgewinne verhindern, dafür aber höhere Kosten verursachen, weil mehrere Leitungs- oder Schienennetze notwendig wären. Folglich ist die Versorgung durch einen einzigen Anbieter die wirtschaftlichere Lösung. Da jedoch ein solches Monopol - privatwirtschaftlich betrieben - keinen Anlass hat, die Preise den niedrigen Kosten anzupassen, kann die Lösung nur in öffentlichem Eigentum bestehen. Diese Überlegung war selbst bei konservativen Ökonomen lange Zeit akzeptiert.Ein größerer öffentlicher Sektor kann auch dann notwendig werden, wenn eine keynesianische Politik die Verteilungsgerechtigkeit verbessert und damit die gesamtwirtschaftliche Nachfrage stärkt. Dann nämlich wird die Kapitalrentabilität auf ein Niveau begrenzt, das die stets steigenden Renditeforderungen besonders der Großkonzerne unterschreiten kann. Ist aber die Profitrate nicht mehr die Veranlassung zur Investition, dann müssen Unternehmen in öffentliches Eigentum überführt werden.Ein gemischtwirtschaftliches System mit einem bedeutenden öffentlichen Sektor ist also eine Frage der Nützlichkeit. Ob es dieses System geben soll und wie es zu organisieren ist, wird durch den jeweiligen praktischen Zweck bestimmt. Zweck und Mittel sind rational abzuwägen. Dies ist energisch zu betonen, damit die Debatte nicht von konditionierten Reflexen - Weg zur Knechtschaft, Staatssozialismus, Kommandowirtschaft - dominiert wird. Bekennen wir uns also in diesem Punkt zu unserer kapitalistischen Zivilisation, die - äußerst rationalistisch - uns beigebracht hat, wirtschaftliche Arrangements nach ihrem Nutzen zu beurteilen, wobei die Linke ihr Urteil nach dem Nutzen für die große Mehrheit der Bevölkerung fällt. Ob bestimmte Wirtschaftsbereiche verstaatlicht, progressiv entstaatlicht oder ver(zivil)gesellschaftet werden, ob sie genossenschaftlich oder anders zu organisieren sind, ist also eine Frage der reinen Zweckmäßigkeit im Interesse besserer Lebensverhältnisse für eben diese Mehrheit.Kein Auffanglager für abgewählte PolitikerBei der Gestaltung des öffentlichen Sektors zeigt sich, dass - je nach der Funktion, die erfüllt werden soll - unterschiedliche Organisationsformen zum Zuge kommen können. Für Kindergärten beispielsweise sind die Gemeinden, die Kirchen oder andere Organisationen die geeigneten Träger, solange der Gemeinderat, die Eltern, Baubehörden und Jugendämter ein Wort mitzureden haben. Kontrolle ist auch hier nötig, damit es nicht zu zivilgesellschaftlichem Klüngeln voller Willkür und Kleinlichkeit kommt. Wenn dagegen privates Eigentum an den Leitungsnetzen für Strom und Gas nicht zweckmäßig ist, weil dies den Wettbewerb beschränkt und die Eigentümer die Instandhaltung der Netze nicht sicherstellen, dann macht der technisch notwenige Umfang dieser Netze einen Großbetrieb erforderlich. Jede kleinteilige Organisation wäre so hinderlich wie Kleinstaaterei. Folglich sollte hier durch Verstaatlichung ein öffentliches Unternehmen geschaffen werden. Die Nutzungsgebühr muss die Ersatzinvestitionen finanzieren und - ganz oder teilweise - die Netzerweiterung.Sicherlich ist auch ein solches öffentliches Unternehmen zu überwachen. Die technische Sicherheit ist zu kontrollieren, ebenso die Wirtschaftlichkeit und die Bezüge der Unternehmensführung. Zu verhindern ist nicht zuletzt, dass ein solches Unternehmen zum Auffanglager für abgewählte Politiker wird. Die dafür erforderlichen Institutionen gibt es längst. Rechnungshöfe und technische Überwachungsvereine, die - gegebenenfalls mit erweiterten Kompetenzen - argwöhnisch prüfen, müssen nicht erst gegründet werden. Überdies kann das Unternehmen ein Statut bekommen, das Pfründenwirtschaft ausschließt. Und schließlich ist - anders als im Realsozialismus und im neoliberalen Gegenwartskapitalismus - mehr auf eine wachsame Presse und Öffentlichkeit zu setzen und auch auf aufmerksame Parlamentarier. Zu Vetternwirtschaft und Unwirtschaftlichkeit muss es also nicht kommen.Keine Scheu vor der GeschichteIn jedem Fall aber ist daran zu erinnern, dass in den kapitalistischen Ländern umfangreiche Erfahrungen mit der Organisation des öffentlichen Sektors in einem gemischtwirtschaftlichen System gemacht worden sind. Daraus kann gelernt werden: Wie hat Großbritannien seinen öffentlichen Sektor in der Nachkriegszeit nach den Verstaatlichungen durch die Labour-Regierung organisiert? Wie sah die Grundstruktur der französischen "Planification" aus? Auch in Westdeutschland gibt es reichlich Vorlagen: Die Hessische Landesverfassung, die 1946 eine große Mehrheit fand, sah die Überführung einer Reihe von Unternehmen der Grundstoffindustrie und des Verkehrswesens in Gemeineigentum vor. Ein umfangreicher Gesetzentwurf wurde ausgearbeitet, der die Funktionsprinzipien dieses neuen öffentlichen Sektors regeln sollte. So waren beispielsweise Landesgemeinschaften und verschiedene Sozialgemeinschaften vorgesehen, in deren Verwaltungsräten die Interessen der Produzenten (Beschäftigte) und der Konsumenten ebenso vertreten gewesen wären wie das Interesse des "allgemeinen Wohls", wahrgenommen durch die Landesregierung. Die Produktion sollte nicht am Gewinn orientiert sein. Wesentliche Ziel der Produktionseinheiten waren vielmehr Bedarfsdeckung, Verstärkung des Wettbewerbs, Innovation und Wirtschaftsentwicklung.Auch wenn der hessische Landtag kurz vor der Gründung der westdeutschen Republik mit sehr knapper Mehrheit diesen Gesetzentwurf ablehnte, so ist er doch ein wichtiges Exempel. Ohne die marktwirtschaftliche Ordnung grundsätzlich in Frage zu stellen, sollten die Sozialgemeinschaften das Gegengewicht zu einer vermachteten Wirtschaft bilden, die ihr Funktionsprinzip Wettbewerb verneint. In diesem Sinne wären solche Gemeinschaften offen für jede Vergrößerung des öffentlichen Sektors.All diese europäischen Erfahrungen und auch die sehr grundsätzlichen Bemühungen in Westdeutschland, ein insgesamt arbeitsfähiges Wirtschaftssystem zu schaffen, sind die Vorlagen, die uns helfen können, die Fragen der öffentlichen Daseinsvorsorge, der Organisation des gemischtwirtschaftlichen Systems mit einem umfangreichen öffentlichen Sektor zu lösen. Sicherlich, die kommunistischen Parteien waren gegenüber diesen Mischsystemen stets sehr skeptisch. Sie sahen die Lösung eher in der Revolution. Dieselbe Skepsis statt mit kommunistischen nun mit wirtschaftsliberalen oder defätistischen Argumenten zu stützen, ist nicht überzeugend. Auch wenn der heutige Wirtschaftsliberalismus die Idee der Mischsysteme als nicht mehr zeitgemäß abtut - der Zweck des Wirtschaftens muss allgemeine Bedarfsdeckung sein. Alle geschichtliche Erfahrung zeigt, dass dieses Ziel mit der Privatwirtschaft allein nicht zu verwirklichen ist.
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