Bitte zu Tisch

NATO-Gipfel in Istanbul Der Irak ruft, Bush drängt, die Bündnislogik zwingt

Die westliche Allianz, so heißt es allenthalben, stehe vor einer der riskantesten und wohl auch folgenreichsten Entscheidungen ihrer Geschichte. Sie müsse auf ihrem Gipfel in Istanbul darüber beschließen, ob sie George Bush erhören oder abweisen, ob sie sich als Allianz dazu bereit finden wolle, das anglo-amerikanische Besatzungskorps im Irak zu entlasten oder nicht. Zeigt sich die NATO erbötig, fiele die Entscheidung - höchst symbolisch - am Vorabend des Antritts der neuen Interimsregierung, die durch ein intensives Studium der jüngsten UN-Resolution gewiss erfahren hat: übermütig regieren darf sie nicht. Warum zaudert die NATO eigentlich? Würde sie ihrer eigenen Bündnislogik folgen und sich der seit dem Washingtoner Gipfel von 1999 geltenden Out-of-Area-Doktrin erinnern - dem Interventionsanspruch weltweit -, dürfte sie die Amerikaner kaum abweisen. Tut sie das überhaupt? Zwar ist die Bündnissolidarität in Sachen Irak bisher keine "uneingeschränkte", aber eine übertrieben "eingeschränkte" wohl auch nicht. Von den mittlerweile 23 europäischen NATO-Staaten begegnen nur sieben (Frankreich, Deutschland, Belgien, Luxemburg, Spanien, Griechenland und Island, das kein Militär hat) der "Koalition der Willigen" mit Zurückhaltung, einige davon verweisen stattdessen auf ihre wertvolle Präsenz in einer anderen "Koalition der Willigen", die seit geraumer Zeit Afghanistan vor sich selbst beschützt.

Warum kann im Irak nicht sein, was in Afghanistan längst sein darf? Weshalb am Hindukusch in Gestalt der ISAF einen Truppenverband der NATO mit UN-Mandat platzieren und am Tigris keinen? Wie Afghanistan im Oktober/November 2001 wurde der Irak im März/April 2003 durch einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg erobert. Wie in Afghanistan wird auch im Irak die Eroberung durch ein Besatzungsregime gehalten. Hier wie dort kann eine von außen nominierte, nicht demokratisch legitimierte Regierung nur überleben, weil sie die Handreichungen und den Schutz der Besatzungsmacht erfährt. Wie in Afghanistan besteht auch im Irak die vage Hoffnung - weniger eine begründete Aussicht -, ein innerer, sich teilweise terroristischer Methoden bedienender Widerstand gegen die Fremdherrschaft werde sich irgendwann - vorzugsweise - militärisch brechen lassen.

Bei soviel Verwandtschaft fällt der Unterschied zwischen diesen beiden Schauplätzen der ersten asymmetrischen Kriege des 21. Jahrhunderts um so gravierender aus: das militärische, aber nicht minder das politische Risiko im Irak ist um ein Vielfaches höher als in Afghanistan. Es verspricht jedem europäischen NATO-Alliierten, der den USA an die Seite tritt, innenpolitische Turbulenzen, sollten unter den entsandten Soldaten auch nur annähernd soviel Opfer zu beklagen sein, wie sie die Amerikaner seit nunmehr 14 Monaten fast täglich hinnehmen müssen. Doch damit nicht genug. Geht die NATO als Bündnis in den Irak - dabei ist es völlig gleichgültig, ob sie integrierte Stäbe oder Truppen schickt -, wird sie als Gehilfe, nicht als Partner der Amerikaner tätig (dafür sorgt schon die eingangs erwähnte Irak-Resolution 1546, die deren militärischen Führungsanspruch nirgendwo in Abrede stellt). Der arabischen und nichtarabischen Nachbarschaft (Iran) erschiene eine solche Arbeitsteilung zu Recht als Teilhabe an der Okkupation. Immerhin wird in Kabul das NATO-Regime bei den ISAF-Formationen in einer gewissen Distanz zu den ebenfalls im Lande operierenden Kampftruppen der USA gehalten. Für den Irak ergäbe eine solche Trennung keinen Sinn, weil sich Bagdad von einem NATO-Verband auch nicht ansatzweise so beherrschen ließe wie Kabul.

Damit entfällt die elegantere afghanische Variante, und die NATO steckt in der irakischen Doppelfalle. Geht sie dorthin, droht ihr gleicher Verschleiß wie den Amerikanern. Bleibt sie draußen, müssen die Amerikaner samt ihren willigen Koalitionären diesen Verschleiß allein ertragen. Da es sich allerdings um einen fortwährenden Autoritätsverschleiß der westlichen Führungsmacht handelt, wird die NATO wohl handeln müssen und in Istanbul eine Entscheidung treffen, die sie einem Irak-Einsatz zumindest näher bringt.


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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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