Bitter und zart

Europa Orkun Erteners „Lebt“ und Martin von Arndts „Tage der Nemesis“ führen durch ein Europa der Kriege
Ausgabe 47/2014
Alle Bilder dieses Spezials stammen aus der Fotoserie „Vele“ von Tobias Zielony*
Alle Bilder dieses Spezials stammen aus der Fotoserie „Vele“ von Tobias Zielony*

Foto: Tobias Zielony

Der Schein trügt, der Helddurchschaut die Hybris, und Erleichterung tritt ein

Im kalten Berlin der 20er Jahre fühlt man sich nur kurz an Sherlock Holmes und seinen Doktor erinnert, als Kommissar Eckart mit seinem Assistenten den Mord an einem türkischen Obsthändler reinszeniert. Dann stellt sich heraus: Der Obsthändler ist kein Obsthändler und der Ermittler kein Holmes-Verschnitt.

Der Tote, Talăt Pascha, war ehemaliger Großwesir und ein Hauptverantwortlicher für den Völkermord an den Armeniern. Sein Mörder wird gefasst, bevor er gelyncht werden kann – ein junger, fahriger Mensch, dessen Reaktionen Eckart an eigene Kriegstraumata erinnern. Der Schriftsteller Martin von Arndt hat für jene, die im Ersten Weltkrieg Traumata erlitten, den bildstarken Begriff der „Kriegszitterer“ ausgegraben. Von Arndt belebt vergessene Begriffe und Umstände, seine Sprache zieht den Leser schnell hinein in funzelig beleuchtete Straßen, verrauchte Kneipen und zugige Büros. In Tage der Nemesis gibt es das Fräulein vom Amt, Geräusche in den Telefonleitungen, Stenotypistinnen, Schlafgänger, Gerüche nach Karbol und Lavendel, die „Elektrische“.

Atmosphäre sinnlich erfassbar zu machen, ist eine Stärke, für die der 1968 als Sohn ungarischer Eltern in Ludwigsburg geborene Autor bereits in Oktoberplatz oder Meine großen dunklen Pferde (2012) viel Lob erhielt. Er schrieb über die private und berufliche Desillusion des weißrussischen Kulturjournalisten Wasil.

Kommissar Eckart verfranst sich zwischen den Linien. Die weltweit operierende Terrororganisation Nemesis, der auch diese bezaubernde Dolmetscherin angehört, fordert seine moralische Stellungnahme heraus: Darf der Einzelne morden, wenn der mächtige Staat tatenlos bleibt? Im Auswärtigen Amt ziehen derweil „Onkel“ Klant und die Kaisertreuen die Fäden. Eckart war nach dem Tod seiner Mutter von Klant unterstützt worden. Nach den Grauen des Kriegs will er sich von Klant unabhängig machen, seine Morphinsucht ist dabei ein fragwürdiger Stabilisator.

Ein weiterer politischer Mord, der die Handschrift von Nemesis trägt, führt Eckart nach Rom, der Stadt seiner Kindertage, in der er für kurze Zeit Freundschaft und Verbundenheit erlebt. Doch der aufkeimende Faschismus fordert die ersten Toten, die Polizei ist machtlos. Zurück in Berlin holen ihn Armut, Kälte und das preußische Klima ein. Er muss eine Entscheidung treffen.

Martin von Arndt hat seinem Roman ein Vorwort voranstellt, in dem er den Genozid am armenischen Volk historisch darlegt und daneben die Rolle von einzelnen Mutigen, die nicht zusehen wollten, würdigt. Auf klare und differenzierte Weise nähert sich der Autor dem politisch-historisch schwierigen, sensiblen und komplexen Thema. Das nachkriegswirre Europa, vielfältige Interessen, Verletzungen, Verschiebungen von Machtverhältnissen, die sich aus dem Ersten Weltkrieg ergaben – man könnte sich verlieren darin. Der mit zahlreichen Auszeichnungen geehrte von Arndt (zuletzt erhielt er den Thaddäus-Troll-Preis) tut das nicht, vielmehr erzählt er stringent, hochspannend, respektvoll und einfühlsam. Tage der Nemesis ist ein Kleinod unter den Kriminalromanen.

„Der Teufel in Menschengestalt“ ist ein sympathischer Typ. Kein Pferdefuß, kein Schwefelgeruch, stattdessen „leuchtend blaue, fröhliche Augen“ hinter einer „zarten goldfarbenen Nickelbrille“, die schulterlangen Haare zurückgekämmt, legere Kleidung: Ein bisschen erinnert der erheblich jünger wirkende 63-Jährige „an diesen Philosophen aus dem Fernsehen“. Als dem Ghostwriter Can Evinman diese Ähnlichkeit auffällt, ist es für ihn schon fast zu spät. Einen Menschen hat er bereits umgebracht, ein weiterer wird folgen. Was er für sein Leben hielt, existiert nur noch in Bruchstücken, seine Biografie ist das Ergebnis einer diabolischen Manipulation. Dass dies ausgerechnet jemandem passiert, der sein Geld damit verdient, die ungeordneten Erinnerungen Prominenter in eine überzeugende Geschichte zu überführen, ist nicht die einzige bitter ironische Note in Orkun Erteners Debütroman Lebt.

Die Geschichte beginnt mit einem ganz normalen Auftrag. Evinman soll einer bekannten Schauspielerin beim Verfassen ihrer Autobiografie zur Hand gehen. Es ist der richtige Zeitpunkt. Die studierte Ärztin, deren 40. Geburtstag bevorsteht, ist nicht nur ein beliebter Fernsehstar, sondern hat sich auch mit ihrem Engagement für eine international tätige humanitäre Organisation einen Namen gemacht. Dass sie mit einem der reichsten Männer des Landes verheiratet ist, spielt dabei keine geringe Rolle. Doch die Arbeit gerät ins Stocken. Ein bereits verabredeter Interviewtermin wird unter einem Vorwand abgesagt. Stattdessen bekommt er einen neuen Auftrag. Evinman soll die Erinnerungen eines mittlerweile 100-jährigen ehemaligen SS-Offiziers aufschreiben. Der Ghostwriter wird neugierig und lässt sich auf ein erstes Gespräch ein. Von da an ist nichts mehr so, wie es war. Der greise Ex-Nazi war während des Kriegs in Thessaloniki stationiert. Und die grausame Geschichte, die er ohne Gefühlsregung erzählt, berührt Evinman zufiefst. Vor 35 Jahren sind seine Eltern durch ein Verbrechen ums Leben gekommen. Die Geschichte verspricht Aufschluss, auch über die Herkunft seines Vaters.

Die absolute Amoralität

Offenbar stammte er aus einer Familie von Dönme, so werden die Mitglieder einer Religionsgemeinschaft von zum Islam konvertierten Juden genannt, deren Ursprünge im osmanischen Saloniki des 17. Jahrhunderts liegen. 1923 mussten sie im Zuge des griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausches ihre Heimat verlassen, wurden aber in der Türkei nie wirklich akzeptiert, im Gegenteil. Viele gingen ins Ausland, einige auch nach Deutschland, was 1942, als die türkische Regierung ihnen die Staatsbürgerschaft entzog, ihr Verhängnis wurde.

Orkun Ertener wurde 1966 in Istanbul geboren. Bekanntheit erlangte der deutsche Fernsehdrehbuchautor mit seiner Kriminalserie KDD – Kriminaldauerdienst, die auch mit dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet wurde. Ohne dass es aufdringlich didaktisch wirken würde, gelingt es Orkun Ertener, den historischen Hintergrund seiner Romanhandlung auszuleuchten. Gleichzeitig erweist er sich als Meister im Aufbau von Spannung. Wie Can Evinman, der als Profi für gute Geschichten einen großartigen Ich-Erzähler abgibt, fügt der Leser Puzzleteil um Puzzleteil zusammen, um dann verblüfft festzustellen, dass ein so entstandenes Bild auch trügerisch sein kann. Am Ende sieht er sich mit der absoluten Amoralität konfrontiert, nimmt aber erleichtert zur Kenntnis, dass der Held deren Hybris durchschaut und weiß, was er zu tun hat.

*Vele - Am Ort des Verbrechens

Tobias Zielony studierte im englischen Newport Dokumentarfotografie, als ihm die Idee kam, Jugendliche in Jogginganzügen aufzunehmen. „Damals, 1999, hatte ich das Gefühl, alle jungen Leute tragen diese Kleidung“, erzählt Zielony. Beim „Guardian“ fragte man: „Was ist jetzt die Geschichte?“ Und Zielony antwortete: „Na, die Jungs, die da rumhängen, nichts zu tun haben und Jogginganzüge tragen.“ Meint: Tobias Zielony ist kein Künstler, der seine Bilder auf eine stereotype Erzählung reduzieren will, auf Arbeitslosigkeit, Gewalt, das Übliche.

Über „Schrumpfende Städte“ (2004) sagt er, er habe für das Projekt in Halle/Saale fotografiert, ohne etwas von den Problemen zu wissen: Zielony findet es spannend, dass man eigentlich nie genau weiß, wo die Bilder aufgenommen wurden. Unser Krimi-Spezial illustrieren Fotografien aus Tobias Zielonys Buch „Vele“ (Spector Books 2014, 576 Seiten, 40 €) über Vele di Scampia, eine Wohnsiedlung im Norden von Neapel. In den 80er Jahren Schauplatz des Camorrakriegs, gehört der Gebäudekomplex heute zu den größten Drogenumschlagplätzen Europas und symbolisiert die Macht der Mafia in der Region.

Anne Kuhlmeyer ist Psychotherapeutin und Krimiautorin. Die Leipzigerin lebt in Coesfel

Joachim Feldmann lebt als Lehrer und freier Literaturkritiker in Recklinghausen

Lebt Orkun Ertener Scherz 2014, 640 S., 19,99 €

Tage der Nemesis Martin von Arndt ars vivendi 2014, 307 S., 18,90 €

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