Warum in den eingefrorenen Formen des Sozialistischen Realismus das einziggültige Rezept suchen? Dann suchte man nach Simplifizierung; nach dem, was jeder versteht, also auch die Funktionäre. Man verfiele in den proudhonianischen Fehler einer Rückkehr in die Vergangenheit und legte dem künstlerischen Ausdruck des Menschen, der heute geboren und geschaffen wird, eine Zwangsjacke an." - Wie ein Evangelium tönte 1965 dies Plädoyer Ernesto Che Gueveras für eine freie Kunst der Revolution nach Europa herüber. Gerade bei westlichen Intellektuellen begründeten Texte wie der berühmt gewordene Essay Der Sozialismus und der Mensch in Cuba die erneute Hoffnung auf einen Marxismus mit menschlichem Antlitz. Und zugleich den Ausgangspunkt für den Mythos vom Socialismo tropical kubanischer Prägung; ein Mythos, der sich über die Jahrzehnte mit beeindruckender Ausdauer gehalten hat.
Heute wandelt manch ausländischer Besucher mit staunendem Blick durch Havanna und entdeckt so heterodoxe Monumente wie den "Mutter-Teresa-von-Kalkutta-Park" oder den "John-Lennon-Park" inklusive von Fidel Castro persönlich enthüllter Bronzestatue, ja gar einen "Prinzessin-Diana-von-Wales-Park". Kaum ein hiesiger Polit-Exotist möchte sich heute allerdings daran erinnern, dass während der postum als "glückliche Dekade der Revolution" glorifizierten sechziger Jahre der Umstand, auf Cuba Katholik zu sein, eine Platte der Beatles zu besitzen oder gar die Herrscher eines ausbeuterischen Systems zu verehren, unmittelbar die Klassifizierung "Ideologischer Diversionismus" zur Folge hatte. Ein Etikett, das nicht selten die Internierung in ein karibisches GULag mit dem euphemistischen Namen "Militäreinheiten zur Unterstützung der Produktion" (UMAP) mit sich führte.
So schmerzlich wie wohl kaum ein anderer Künstler der Insel hat hingegen der Schriftsteller Reinaldo Arenas selbst erfahren müssen, was es bedeutet, sich in Cuba der Zwangsjacke zu entledigen. Die Unverschämtheit, als Schriftsteller ebenso wie als Homosexueller die Autonomie einzufordern, ohne sich "parametrisieren" zu lassen, wie es im offiziellen Jargon hieß, wurde mit unbarmherzigen Maßnahmen geahndet: Verfolgung durch Polizei und Staatssicherheit, Verleumdung als CIA-Agent und Spitzel des Imperialismus, Folter, Gefängnis, vor allem aber vollständige gesellschaftliche Ausgrenzung und Publikationsverbot. All dies beschreibt Arenas in seiner packenden Autobiographie Antes que anochezca (Bevor es Nacht wird), die er 1990 fertig stellte, kurz bevor er sich, schwer an AIDS erkrankt, im New Yorker Exil das Leben nahm.
Vor vier Jahren hat der US-amerikanische Maler und Bildhauer Julian Schnabel das Wagnis unternommen, unter dem Titel Before Night Falls dies einzigartige literarische Porträt eines Lebens und einer Epoche zum Gegenstand seines zweiten Spielfilms zu machen. Eng an Arenas´ Text angelehnt, rekonstruiert Schnabel den Lebensweg des rebellischen Schriftstellers. Mit großen poetischen Gespür und einer bildstarken Kameraarbeit evoziert der Regisseur die Kindheit Reinaldos in einer vom Urwald umgebenen Gegend auf Lande nahe der ostkubanischen Stadt Holguín. In dieser ästhetisch vielleicht ausgereiftesten Passage des Films greift Schnabel dabei zugleich die Atmosphäre und die naiv-kindliche Welt- und Naturerfahrung von Arenas´ einzigem in Cuba publizierte Buch auf, seinem Kindheitsroman Celestino vor dem Morgenrot (1967).
Erst 14-jährig jedoch verlässt Reinaldo die Obhut seiner Mutter (Olatz López Garmendia), um sich dem Ejército Rebelde Castros anzuschließen, und gelangt bald als Student in das schillernde Havanna. In jenem Augenblick ist die kubanische zugleich auch eine der Hauptstädte des literarischen Schaffens in ganz Lateinamerika; aber dank der mit der sozialistischen einhergehenden sexuellen Revolution ebenso eine brodelnde Schwulen-Metropole. Schnell findet Reinaldo sowohl Anschluss im elitären Literatenzirkel um José Lezama Lima und Virgilio Piñera (ein vergnüglicher Cameo-Auftritt des brasilianischen Starregisseurs Héctor Babenco) als auch im schwulen Kreis um Pepe Malas (Andrea Di Stefano) und Lázaro Gomez (Olivier Martínez) und stürzt sich gierig in die Verlockungen der Stadt mit ihrem ausgelassenen Gesellschafts- und Nachtleben und ausgiebigen Cruisingtouren im prächtigen fünfziger-Jahre-Cabrio. Doch allzu rasch muss er erleben, dass "in dieser von militanter Männlichkeit strotzenden" Revolutionsgesellschaft für Homosexuelle ebenso wie für Schriftsteller kein Platz ist, und schon gar nicht für homosexuelle Schriftsteller. Als in einem an stalinistische Schauprozesse erinnernden Gerichtsverfahren der kritische Dichter Heberto Padilla (von Schnabel in etwas unglücklicher Weise mit der Figur des 1989 wegen Drogenhandels hingerichteten General Ochoa zu einem fiktiven "Zorilla Ochoa" verschmolzen) sich konterrevolutionärer Machenschaften selbstbezichtigt und seinen gesamten literarischen Freundeskreis namentlich in dies Urteil einbezieht, bricht auf der Karibikinsel endgültig die Eiszeit aus: das sogenannte "Graue Jahrzehnt". "Die Kunst ist eine Waffe der Revolution. Ein Produkt der Kampfmoral unseres Volkes. Ein Instrument gegen das Eindringen des Feindes", proklamiert 1971 ein auf den vermeintlichen "Fall Padilla" hin einberufener "Kongress für Erziehung und Kultur". Bereits 1961 hatte Fidel Castro in seinem Wort an die Intellektuellen die Frage gestellt: "Welches sind die Rechte der Schriftsteller und Künstler, ob revolutionär oder nicht?" Die Antwort hatte er wie immer selbst parat: "Innerhalb der Revolution jedes, außerhalb der Revolution keinerlei Recht". Zehn Jahre später wird klar: "Außerhalb" ist ein Schriftsteller bereits dann, wenn er seine Worte nicht als antiimperialistische Stahlmantelgeschosse verwenden will.
Was es konkret besagt, plötzlich "keinerlei Recht" mehr zu besitzen, erlebt Arenas 1973. Unter dem Vorwand des Missbrauchs Minderjähriger wird er, verraten von Spitzeln im engsten Freundeskreis, in der kolonialen Festung El Morro unter erniedrigenden Bedingungen eingesperrt. Erst als er gegenüber seinem Folterer, dem brutalen männlichkeitsbesessenen Leutnant Víctor (Johnny Depp) offiziell die Absage an seine Homosexualität und seiner "konterrevolutionären" Schriftstellertätigkeit aufs Papier bringt, kommt er frei und kann sich schließlich 1980 im Rahmen des von Castro bewilligten Massenexodus aus dem Hafen von Mariel in die Vereinigten Staaten absetzten. Obwohl noch in New York von seinem Freund Lázaro Gómez Carriles treu umsorgt, der mit Jobs als Hotelportier ums wirtschaftliche Überleben kämpft, lassen die Verbannung ebenso wie die im Exil erlittene HIV-Infektion in Reinaldo einen Durst nach Abrechnung und Rache erwachsen, dessen Ventil seine oft bitteren und dennoch nicht des Humors und einer unbändigen Lebensfreude entbehrenden Memoiren sind, die der "echte" Lázaro Gómez Carriles, selbst Schriftsteller, als Ko-Drehbuchautor in einen Film umzusetzen half.
Vergleicht man Julian Schnabels filmische Adaption dieses Buches mit seinem cineastischen Erstling, der Biographie seines früh verstorbenen New Yorker Künstlerfreundes Jean-Michel Basquiat (Basquiat, 1996), also einem Schicksal und einem Ambiente, das ihm persönlich eng vertraut war, ist seine Arenas-Verfilmung ein riskantes Experiment. Nicht nur, dass der Regisseur, wie er selbst betont, "weder schwul noch Kubaner" ist: er hat Arenas´ Insel in erster Linie durch dessen Bücher kennen gelernt. Natürlich ließen auch die Dreharbeiten sich unmöglich an den Originalorten durchführen. Trotz allem ist es Schnabel gelungen, vor der Ersatzkulisse der mexikanischen Küstenstadt Veracruz ein gespenstisch authentisches Porträt des revolutionären Cuba der ersten Jahre zu entwerfen.
Zuzuschreiben ist dies Gelingen sicher auch der Integration von Arenas´ engen Freunden wie Lázaro Gómez in den Arbeitsprozess und einem hervorragend recherchierten Produktionsdesign sowie einer Musikauswahl, die jenseits der Klischees mehrere hierzulande völlig unbekannte Klassiker der kubanischen sechziger Jahre ins Kino bringt. Als Abspann integriert Schnabel in fast dokumentarischer Weise sogar weite Passagen des legendären, da in Cuba einst verbotenen Kurzfilm P.M. von Saba Cabrera Infante.
Dass er das Ziel aber auch durch ein für einen Independent-Film recht hollywoodesk anmutendes Staraufgebot und einem entsprechenden Ausstattungsaufwand anstrebt - darunter etwa eine 200 Meter lange Studioreplik von Havannas Ufermauer Malecón -, lässt den Film dennoch an keiner Stelle in die Nähe billigen Kommerzes rücken. In der Rolle des Reinaldo Arenas beeindruckt die Leistung Javier Bardems, der als spanischer Vorzeige-Kinomacho mit Sicherheit ebenfalls "weder schwul noch Kubaner" ist und dennoch beides in höchst glaubwürdiger Weise zu übermitteln weiß - bis hin zu einem fast perfekten karibischen Akzent. Auch scheinen Sean Penn als Reinaldos Lover Coco und Johnny Depp in der ebenso provokanten wie souverän interpretierten Doppelbesetzung als aufgetakelter Transvestit Bon-Bon und folternder Leutnant im lateinamerikanischen Kino ihren geradezu idealen Platz gefunden zu haben. Es bleibt ein Mysterium, warum es fast vier Jahre dauerte, bis Before Night Falls, beim Festival von Venedig im Jahre 2000 mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet, nun endlich in die deutschen Kinos kommt.
Unter den auf der Insel residierenden kubanischen Intellektuellen allerdings, und zwar nicht nur von Seiten systemtreuer Funktionäre, ist Schnabels Film oft auf recht unsanfte Urteile gestoßen: Der Film träfe das kubanischen Ambiente überhaupt nicht, und zudem sei die in ihm gezeigte, offene militärische Repression in dieser Form historisch einfach unauthentisch. Für einen Betrachter, der diese Zeit in Cuba selbst nicht miterlebt hat, ist es schwer, auf dieses Urteil eine fundierte Erwiderung zu geben. In gewissem Maße sind diese Tatsachen auf Arenas´ eigenen Text zurückzuführen, der als Lebensabrechnung eines todkranken Exilanten sicherlich sehr subjektiv und überspitzt ist. Tatsächlich wurde die literarische Vorlage von Schnabel sogar entschärft, und zwar, Puritanismus verpflichtet, insbesondere hinsichtlich der Schwulenthematik - Zensur und Selbstzensur sind eben nicht allein kubanische Phänomene. Wem die Fehler aber auch immer zuzuschreiben seien - ob Schnabel, Arenas oder Castro: Lust auf Cuba erweckt der Film angesichts der dargestellten allgegenwärtigen Unterdrückung und Gewalt nur in sehr bedingtem Maße. Anstelle von linkem Eskapismus und karibischem Fernweh lässt er jedoch eine ganz andere Reisesehnsucht im Zuschauer erstehen. Nämlich die in das literarische Universum eines hierzulande bislang viel zu wenig beachteten Autoren, dessen wichtigste Werke bereits seit längerem in einer sprachlich kongenialen deutschen Übersetzung vorliegen.
Reinaldo Arenas. Bevor es Nacht wird. Ein Leben in Havanna. Aus dem Spanischen von Thomas Brovot und Klaus Laabs. Deutscher Taschenbuch Verlag, 2. Auflage, München 2002. 11,50 EUR
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