In den USA kamen seit 2015 1.446 Schwarze Menschen bei Polizeieinsätzen ums Leben. Gegen den Polizisten Derek Chauvin, der George Floyd bis zum Atemstillstand fast neun Minuten lang sein Knie in den Nacken presste, läuft seit Ende März ein Prozess. Ob der Täter verurteilt wird, ist offen. Es gilt, was James Baldwin 1963 erklärte: „In unserer Zeit, wie in jeder Zeit, ist das Unmögliche das Mindeste, was man verlangen kann.“
Damon Locks würde diesen Satz sofort unterschreiben. Der Chicagoer Künstler, Musiker und Aktivist steht mit dem Black Monument Ensemble fest in der Tradition der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. In dem Song Sounds Like Now – vom 2019 erschienenen Debütalbum Where Future Unfolds – skandiert ein v
– skandiert ein von afrikanischen Polyrhythmen getriebener Gospelchor immer wieder die Zeile „There goes another one, there goes another one, there goes another one“. Amerika tötet seine Jugend, weil sie ohne Arbeit und bekifft auf dem Bürgersteig herumsteht.Zikaden zirpen dahinterDabei kommen Locks und seine vielköpfige Truppe aus Sängern, Tänzern und Instrumentalisten nicht mal aus der Hip-Hop-Community, sondern aus einem eher akademischen Umfeld mit großem Geschichtsbewusstsein: Die Collagen und Plattencover, die Locks als Künstler entwirft, erinnern stark an Arbeiten von Emory Douglas, einst Grafiker und Minister of Culture bei der Black Panther Party. Als wichtigen musikalischen Einfluss nennt Locks auf Nachfrage den 2017 verstorbenen Phil Cohran. Ein frühes Mitglied des Sun Ra Arkestra und Mitbegründer der legendären Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM) – eine 1965 gegründete Keimzelle des freien avantgardistischen Jazz, die unter anderem das Art Ensemble of Chicago hervorbrachte. Begeistert ist Locks auch von den Schwarzen Feministinnen des Combahee River Collective, die bereits in den 1970ern von Intersektionalität und Identitätspolitik sprachen. Da kennt einer die Geschichte der Black-Power-Bewegung. Doch der 53-Jährige, der früher bei Post-Punk-Bands gesungen hat, ist kein Streber in Sachen Identitätspolitik und Black Lives Matter. Seine kämpferischen Plakate prägen schon lange die Szene in Chicago. Dem Magazin The Believer erklärte er unlängst: „Unterrichten ist definitiv ein Teil meiner Kunstpraxis.“ Dazu passt, dass Locks seit sechs Jahren als Kunsterzieher in einem Hochsicherheitsgefängnis arbeitet, seine Einblicke bestätigen die Zweifel am amerikanischen Justizsystem.Und nun endlich erscheint NOW, der Nachfolger von Where Future Unfolds. Unter Covid-19 war es nicht leicht, neue Stücke einzuspielen, mit einem Ensemble, das überwiegend aus Sängern und Bläsern besteht. Ende August standen sie deshalb nicht im Experimental Sound Studio in Chicago – sondern in dessen Garten: fünf Instrumentalist*innen und der sechsköpfige Chor, alle mit OP-Masken und in gebührendem Abstand. Die Luft war schwül und gewittrig, erfüllt vom Zirpen der Zikaden – was auf einem der Songs zu hören ist.NOW versteht sich als Momentaufnahme eines ebenso pandemischen wie hitzigen Sommers. Auf den Tod von George Floyd folgten die schwersten Unruhen seit der Ermordung von Martin Luther King. Geplünderte Supermärkte, brennende Polizeiwagen, mehr als 20 Tote. Die Collage auf dem Cover des Albums – Gewitterwolken, Demonstranten und über allem eine Schwarze Königin, die zwei Lautsprecher wie eine Krone auf dem Kopf trägt – trifft die aufgeheizte Stimmung gut. Die bei aller Komplexität mitreißende Musik vermittelt ein Gefühl von Gemeinschaft und Solidarität – noch leidenschaftlicher als 1969 Charlie Hadens Liberation Music Orchestra.Das Fundament bilden die afrikanischen Rhythmen der Schlagzeuger Dana Hall und Arif Smith, auch die von Damon Locks beigesteuerten Samples und Sounds nähren den vital vibrierenden Puls des Albums. Darüber entfalten sich die freien Improvisationen der Klarinettistin Angel Bat Dawid und des Kornettisten Ben LaMar Gay – zwei der wichtigsten neuen Namen des Jazz. Doch das Herzstück ist der Chor, mit Mitgliedern zwischen neun und 52 Jahren. Hier spricht kein selbstbezogener Sänger, sondern die gebündelte kämpferische Stimme eines Kollektivs. The Body Is Electric ist dafür ein gutes Beispiel. Nach einer kurzen Diskussion der Musiker über Ausgrenzungserfahrungen, Angst und Anspannung durch Covid-19 explodiert buchstäblich die Luft. „The body is electric, alive with life“ ruft der Chor, die Trommeln antworten mit rhythmischer Ekstase, während sich Angel Bat Dawids Klarinette bis in die Stratosphäre schraubt. Ein Ruf nach Freiheit. Locks vergleicht das Stück mit der eleganten Körperlichkeit des Breakdancers Richard „Crazy Legs“ Colon: „In den Straßen der Bronx erschuf Colon mit seinem Körper eine neue Sprache der Bewegung. Vergangenen Sommer war es eine politische Bewegung, die entstand, weil die Menschen auf der Straße zusammenkamen. Der Körper ist wirklich elektrisch.“ Ein schönes Bild. Und ein wunderbares Album, das nicht nur einen revolutionären Moment einfängt, sondern von einer solidarischen und emphatischen Zukunft träumt.Placeholder infobox-1