Viagra sei Dank, ist die Impotenz des Mannes in aller Munde. Frauen und Männer, JournalistInnen, LiteratInnen, PsychologInnen und PsychoanalytikerInnen streiten seit dem Marktgang von Viagra wieder öffentlich um die Bedeutung von Impotenz. Gerne wird auch die Annahme formuliert, die Impotenz der Männer habe etwas mit gewandelten Rollenbildern für Männer zu tun - ausgelöst durch den Feminismus.
In der Fülle von Artikeln, die kurz nach der Markteinführung von Viagra in den Zeitungen und Zeitschriften erschienen, lassen sich zwei Positionen unterscheiden. Die eine Gruppe umfasst vorwiegend von Frauen geschriebene Texte, die das Bild vom schwachen Mann entwerfen, der durch Viagra hofft, die Angst vor der Impotenz bewältigen zu können, was den A
Blaues Wunder
Auferstehung Das Potenzmittel Viagra rekurriert auf ein mehr als 2000 Jahre altes Mysterium und fügt sich nahtlos in moderne Phantasien von der geistigen Gebährfähigkeit des Mannes
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as den Autorinnen lächerlich erscheint. Die Männer erscheinen als unfähig, zu ihren Schwächen und Ängsten zu stehen und in der Akzeptanz derselben wirkliche Stärke zu erlangen. Der Mann wird für Frauen (und Psychoanalytiker) zum (gefährlichen) Schwächling - nicht weil er impotent sein könnte oder ist - sondern weil er partout nicht impotent sein will. Ganz anders äußern sich die übrigen, meist männlichen Autoren. Ambivalent erleben sie Viagra einerseits als "Wunder" und zweifeln andererseits gleichzeitig die Relevanz der Pille an, weil "Tarzan" bereits ohne Viagra hyperpotent sei. Was also passiert, fragen sie, wenn Viagra nun die Lust noch stärkt? Den Phantasien sind hierbei keine Grenzen gesetzt, vor allem das Bild des allabendlich fordernden Gatten wird heraufbeschworen sowie das Bedürfnis der Männer betont, ihre Gene möglichst großflächig zu verteilen. In all diesen Artikeln, ob der Sprachduktus nun ironisch oder ernst ist, wird die Phantasie des immer und überall sexuell potenten Mannes entworfen. Während sich die Autorinnen der ersten Gruppe im Ideenkontext der Psychologie/Psychoanalyse bewegen und die "Verdrängung" von Impotenz für gesellschaftlich gefährlich erachten, sehen die Autoren der zweiten Gruppe in der von ihnen diagnostizierten Dauerpotenz das gesellschaftliche Problem der Inkompatibilität der Geschlechter. Betrachtet man es unter Interessensgesichtpunkten, dann versuchen die Frauen, die Machtbalancen in der symbolischen Zuweisung an die jeweiligen Geschlechter zu verschieben, indem sie die Charakterisierung vom Mann als dem starken Geschlecht in Frage stellen und es als das an sich schwache beschreiben. Die Mehrheit der schreibenden Männerwelt verteidigt dagegen ihre Potenz. Der alte Geschlechterkampf erhält so eine neue Dimension, da Frauen nun öffentlich beginnen, Männerkörper in ihrer Schwäche und Verletzlichkeit wahrzunehmen und zu thematisieren. Gleichwohl, ein Blick in die Geschichte des Abendlandes zeigt auch, dass es selbst bei der Thematisierung des Männerkörpers um den Körper der Frau gehen kann. Glaubt man der Zeit, dann ist mit Viagra nichts weniger als ein himmlisches Mirakel über uns gekommen. Dank der "Wunderpille" mit dem "himmelblauen Überzug" erlebten viele Männer ein langersehntes "blaues Wunder". Anderen erscheint die Viagra-gestärkte Erektion sogar "als unverhofftes Gottesgeschenk" und "Heilssegen" (Zitate aus dem Jahrgang1998). Die Wirkung von Viagra beruht auf der Beeinflussung der an einer Erektion beteiligten Stoffwechselprozesse. Unter der Überschrift "Rebuilding the Male Machine" vergleicht das Nachrichtenmagazin Newsweek 1997 die Versorgung des Penis mit Blut (was seine Erektion bewirkt), mit dem kleinen Einmaleins des Klempners: "Es ist so als würde man Wasser in die Badewanne einlaufen lassen. Man dreht den Wasserhahn auf und schließt den Abfluss." Angesichts solch profaner Vergleiche gibt der Wunderglaube wiederum Anlass zur Verwunderung. Wunder zeichnen sich durch ihr Geheimnis aus, weshalb sie sich grundsätzlich jeder menschlichen Berechenbarkeit und Kontrolle entziehen. Der Brockhaus definiert Wunder als einen "Vorgang, der Erfahrung oder Naturgesetzen widerspricht. Für die biblische Religion ist das Wunder die Anzeige der souveränen Macht Gottes, der sich in der sichtbaren Welt offenbart". Worin besteht also nun das Viagra-Wunder? Die Wunderausstrahlung dieses Medikaments offenbart sich, wenn man wissenschaftliche Berechenbarkeit nicht als Gegensatz, sondern als Erfüllung religiöser Glaubenssätze betrachtet. Mit anderen Worten: Die Wirkung von Viagra beruht nicht auf einem Wunder, sondern Viagra simuliert ein mehr als zweitausend Jahre zurückliegendes christliches "UrWunder", in dessen langer Rezeptionsgeschichte die Erektion eine wichtige Rolle spielt - gemeint ist die Auferstehung Christi. Der auferstandene Christus ist der Repräsentant eines neuen Kosmos, er verheißt die Überwindung des Todes und die Geburt eines neuen unsterblichen Menschen aus dem Geist. Ohne dieses "UrWunder" wäre die christliche Religion ihres Zentrums beraubt. Was aber hat die Erektion damit zu tun? Bekanntlich häuften sich im 16. Jahrhundert Bilder, die den auferstandenen Christus mit einer Erektion zeigen, die durch ein Schamtuch verhüllt wird und damit umso mehr ins Auge sticht. Diese Art und Weise, das Schamtuch zu tragen, entspricht der zeitgenössischen Männermode. Allerdings ist die Aufmerksamkeit für die Erektion in den Christus-Darstellungen mehr als eine modische Anspielung. Sie lässt sich, wie insbesondere der Kunsthistoriker Leo Steinberg überzeugend argumentiert, als sichtbares Zeichen der Überwindung der in der Beschneidung symbolisierten Sterblichkeit lesen. Da nach christlicher Lehre der Auferstandene ein ganz und gar keusches Leben geführt und frei von jeglicher sexueller Lust gelebt habe, besagt die Darstellung der Erektion den Sieg geistiger über sexuelle Männlichkeit. Die Hochschätzung geistiger Männlichkeit ist auch der Diskussion um Viagra nicht fremd, wenn das Medikament von Männern wie Frauen abgelehnt wird, weil sie unnötige Komplikationen für die partnerschaftliche (Hetero-)Sexualität befürchten. Die Vorstellung, die Erektion des männlichen Zeugungsglieds beherrschen zu können, entsteht allerdings nicht erst in der Renaissance. Bereits im 5. Jahrhundert entwirft Augustinus im Gottesstaat das paradiesische Ideal einer vollständig dem Willen unterworfenen Aktivität der Geschlechtsorgane: "Wer aber möchte nicht lieber, wenn´s möglich wäre, ohne Wollust Kinder erzeugen, so dass auch bei diesem Akte, die hierzu erschaffenen Glieder dem Geiste dienstbar wären und auf Willensgeheiß hin in Tätigkeit träten." Diese vom Geist bewirkte Erektion ist kein Selbstzweck. Sie zielt auf die Kontrolle der Fortpflanzung, auf die Erzeugung neuen Lebens nach den Regeln des Geistes. Vater und Mutter der auf diese paradiesische Weise erzeugten Nachkommenschaft ist der Logos, dessen Schöpferkraft sich wiederum im erigierten Penis verkörpert. Die willentliche Erektion des auferstandenen Christus auf den Bildern des 16. Jahrhunderts verleiht mithin dem Urwunder der Fleischwerdung oder genauer: der Gebärfähigkeit des Logos Ausdruck. Die Bilder machen sichtbar, wovon die Kirchenväter nur träumen konnten. Die Pille Viagra ihrerseits ermöglicht eine Art "Bildwerdung des Leibes". In diesem Sinne beweist die "Wunderpille" die Wahrheit des Urwunders. Diese Verheißung erhält einen ganz aktuellen Sinn in einem technologischen und intellektuellen Klima, in dem neue Errungenschaften im Bereich der Reproduktionsmedizin in einer umfassenden Weise die Überwindung der Biologie und des Eigenlebens von Körpern versprechen. Den Frauen droht dabei der Bedeutungsverlust ihrer Gebärfähigkeit, die durch die Konkurrenz im Labor nicht mehr einzigartig ist, und es lockt sie die Versprechung, an der künstlichen Mutterschaft des Logos teilzuhaben. Nicht zufällig fragt deshalb der Philosoph Slavoj Zizek: "Von dem sexuell unersättlichen Mann heißt es gewöhnlich, wenn die Lust ihn übermannt, er denke nicht mehr mit dem Kopf, sondern mit dem Penis. Was aber geschieht, wenn der Kopf des Mannes ganz und gar die Führung übernimmt?" Diese Frage ist natürlich längst beantwortet. Fruchtbarer erscheint hingegen die Frage, wie es dazu kommen konnte. In seinem Bestseller über das Leben und Wirken des Penis rät der belgische Urologe Bo Coolsaet Männern mit Normalerektion, auf Viagra zu verzichten und statt dessen ein weniger leistungsorientiertes Verhältnis zu ihrem Penis zu entwickeln, den er "ganz bewusst zum Pinsel der Liebe ernannt" hat: "Dieser Pinsel ist nämlich ein Instrument mit dem man vorsichtig umgehen muss. Mit einem Pinsel malt man etwas Schönes - und selbst die Leinwand genießt die Berührung." Dieses Zitat ist bemerkenswert, denn der Pinsel/Penis ist keine Erfindung Coolsaets, er erscheint bereits in den Kunstschriften der Renaissance und er ist als "pencil of nature" in die Fotografiegeschichte eingegangen. Die Erektion des auferstandenen Jesus versinnbildlicht die "Fruchtbarkeit" des Bildes, eines Mediums, das sich anschickt, der Menschheit zur Geburt einer zweiten Natur zu verhelfen. Der Renaissancemaler Joachim Sandrart beispielsweise habe sich "unsterblichen Ruhm erworben", - so das Lob seiner Schüler - "durch die leuchtenden Geburten seines unvergleichlichen Kunst-Pinsels". Unvergleichlich sind die Pinsel-Geburten vor allem im Vergleich mit der "Dame Natur" höchstselbst, die - wie die Schüler weiter zu berichten wissen - beim Anblick von Sandrarts Schöpfungen vor Scham am liebsten in den Boden versinken würde, wäre er ihr nicht gerade entzogen worden. Und so bleibt ihr nichts anderes als auszurufen: "Ach daß ich koente doch (sprach sie / mit schamrot stehen) gebaehren solche Werk, als hier die Kunst erdacht." Die Bitte sollte unerhört bleiben, denn die Künstler, die inzwischen im Nebenberuf anatomische Sektionen begleiteten, hatten erkannt, dass der Uterus in Wahrheit ein Penis sei und sein Bild entsprechend korrigiert. In den populären bildlichen Darstellungen des Uterus als Penis kommt die Fantasie männlicher Mutterschaft unübersehbar nieder. Pinsel und Penis gebären das ein-gebildete Geschlecht. Fortan muss sich vor allen Dingen die Frau, jenes ungebildete Naturwesen, ihrer Unvergleichlichkeit mit dem Bild schämen. Und diese Konkurrenz sollte sich mit der Erfindung des fotografischen "pencil of nature" noch verschärfen. Laut Oliver Wendell Holmes - Bostoner Arzt, Schriftsteller und einer der Erfinder der Stereoskopie - bestehe die zukunftsweisende Errungenschaft der Fotografie darin, über die Trennung der Form von der Materie die "Frucht der Schöpfung" erhalten zu haben, weshalb man auf die Materie getrost verzichten könne. Wie wir heute wissen, hat diese Trennung mitnichten zum Verschwinden der Materie, sondern zu ihrer Neuerfindung geführt. Das wussten auch die Anhänger des Kinematographen: "Und dennoch sage ich euch: der Film ist eine neue Kunst ... eine von Grund aus neue Offenbarung des Menschen." Diese wahrlich prophetischen Sätze stammen aus der Vorrede von Bela Balázs´ 1924 erschienenen Schrift Der sichtbare Mensch, in der er sich mit den Bedeutungen der Sichtbarkeit des menschlichen Körpers auf der Kinoleinwand auseinandersetzt. Der Offenbarungscharakter des Kinos liege in der "unmittelbare[n] Körperwerdung des Geistes", die sich auf der Leinwand vollziehe. Womit, so Balázs weiter, zugleich der Beweis erbracht sei, dass die "Kultur den Weg vom abstrakten Geist zum sichtbaren Körper" gehe: "Hier wird der Geist unmittelbar zum Körper, wortelos, sichtbar." Der Kinosaal ist ihm Grabkammer, Gebärmutter und irdisches Paradies zugleich. Nicht ahnen konnte Balázs die scheinbar unbegrenzten Verkörperungsmöglichkeiten, über die wir heute beim Eintritt in die Matrix des Cyberspace verfügen. Sehr genau vorhergesehen hat Balázs hingegen die Materialisierungsmacht des Mediums. Er erkannte den Film als ein Mittel der konkreten "Zuchtwahl": "Indem der Film ein einheitliches Schönheitsideal suggeriert, wird er einen einheitlichen Typus der weißen Rasse bewirken". In Die Maus, die Fliege und der Mensch bescheinigt der Nobelpreisträger und einer der "Väter" der Molekularbiologie Francois Jacob der Genforschung eine tiefe Einsicht in die Logik des Lebenden. Durch sie sei es heute nicht mehr nötig, "die dem Leben zugrundeliegenden Mechanismen übernatürlichen Prinzipien zuzuschreiben." Trotzdem greift Jacob auf das Wunder zurück. Zu dem, wie er es ausdrückt, "Wunderbarsten" dieser durch die Genforschung gewonnenen neuen Vorstellung vom Lebewesen zähle mathematische Präzision, die die Entstehung und Entwicklung eines Embryos kennzeichne: "Aber das Außergewöhnliche bei der Geburt eines Kindes, das Phantastische, besteht nicht in der Beschaffenheit des Gefäßes, in dem die erste Phase stattfindet. Das Unglaubliche ist der Prozeß selbst. Das Unglaubliche besteht darin, daß nach der Befruchtung die erste Zelle, das befruchtete Ei, sich zu teilen beginnt. Was zwei Zellen ergibt. Dann vier. Dann acht. Dann eine kleine Traube von Zellen. Und daß diese Traube sich dann an die Gebärmutterwand hängt, länger wird, wächst und einige Monate später einen Säugling bildet. Dies ist das Wunder." Das Besondere an diesem Wunder besteht mithin darin, dass es keines mehr ist. Denn mit Hilfe der Molekularbiologie und Genforschung kann es herbeigeführt, beobachtet und gesteuert werden. Das hat zur Folge, dass Reproduktionsmediziner und Geburtshelfer die weibliche Gebärmutter inzwischen als den gefährlichsten und bedrohlichsten Ort für einen Menschen überhaupt beschreiben. Die einsehbare Umgebung des Reagenzglases und der Petrischale, Ultraschallverfahren oder auch eine komplett künstliche Gebärmutter, an deren Konstruktion die Forschung erfolgreich arbeitet, verspricht hierbei Abhilfe. Wie der Ethiker Joseph Fletcher bereits 1974 formulierte: "Wenn sie den Fötus erst einmal aus der finsteren, unzugänglichen Gebärmutter herausnehmen und sein Leben bei Licht beobachten können, dann wird das unser Wissen enorm vergrößern und die Hindernisse verringern helfen, vor denen die Geburtshelfer und ihre Patientinnen heute noch stehen." Die finstre Kammer der Gebärmutter scheint der hellen Kammer des Labors hoffnungslos unterlegen. Was Fletcher dabei zu erwähnen vergisst: als wunderbare Geburtshelfer fungieren die dunklen Kammern der visuellen Medien. Während Frauen also tagtäglich mit der dunklen "Lebensfeindlichkeit" ihres Körpers konfrontiert sind, können Männer dank Viagra, so oft sie wollen und es sich leisten können, das helle Wunder der Auferstehung des Fleisches am eigenen Leibe erfahren und zum Ausdruck bringen. Dass die religiösen Erlösungsphantasien dabei nicht verschwunden sind, bestätigen nicht zuletzt die bislang bekannten Nebenwirkungen von Viagra - Kopfschmerzen und ein (himmel)blauer Schleier vor Augen. Ein Umstand weist das Viagra-Wunder allerdings unübersehbar als irdisches Wunder aus: Die Auferstehung des Fleisches kann, völlig unhimmlisch, einen tödlichen Ausgang haben. Die Einnahme von Viagra erhöht das Risiko des Herzversagens und hat bereits zahlreiche Todesopfer gefordert. Der Hersteller Pfizer zeigte sich verwundert: mit dem Tod hatte man offenbar nicht mehr gerechnet.Martina Löw ist Professorin für Soziologie an der Technischen Universität Darmstadt, zuletzt erschien von ihr Raumsoziologie. Frankfurt am M., 2001.Bettina Mathes, Kulturwissenschaftlerin an der Berliner Humboldt-Universität, veröffentlichte zuletzt Verhandlungen mit Faust. Geschlechterverhältnisse in der Kultur der Frühen Neuzeit, 2001.
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