Blicke Du durch

ÄSTETHISCHER KALTSINN UND ELITÄRER WIDERPART Karls Mickels gedenkend

Sie

Ein wenig fröstelnd aber leichten Fußes

Ging sie dahin am Rand der Stadt und fluchte

Der Ton melodisch, daß die Knospen sprangen

Die Worte Unflat, daß der Schlamm erbebte.

In sich versunken an dem fremden Orte

Drang sie hindurch durch Zäune und Verhaue

Nur ihr Kontur ward trübe in den Mauern

Doch höher die Gestalt, die draus hervorging.

So daß alsbald, je mehr sie sich entfernte

Der Erde Krümmung ihre Wade deckte

Des Schrittes Schwung der Blicke Winkel ausmaß

Und auf dem Scheitel jäh der Pol-Stern flammte.

Sie wandte sich. Ich sah die schwarzen Zähne

Und sahe die vernähten Augenlider.

Karl Mickel 1997

Friedrich Dieckmann

Das Werk, eines der prägnantesten deutscher Sprache in der zweiten Jahrhunderthälfte, ist zuhanden, 1990 hat der Mitteldeutsche Verlag begonnen, es gesammelt herauszugeben: drei Bände in einem, dem Wende-Jahr, wo so vieles dann auf den Äckern um Leipzig landete, einiges in der gotischen Scheuer des Pastors Weskott.

Drei schmale, graue, schöngedruckte Schriften-Bände waren das, und das Unternehmen wurde weitergeführt, gegen alle Ungunst der Zeit: 1991 mit dem ersten Band des Lachmund-Romans, 1993 mit den gesammelten Theater- und Filmtexten, nach siebenjähriger Pause dann mit einer Versammlung exzeptioneller Dichtungs-Kommentare: der poeta doctus im aufschließenden Zugriff auf Ahnen und Zeitgenossen. Die grauen Bände sind vorzüglich gesetzt (Bembo-Antiqua war des Autors Wahl), und doch greife ich, mich der Gedichte zu vergewissern, lieber nach den alten Reclam-Bändchen mit dem sanft vergilbenden Papier, dessen gelassene Holzhaltigkeit vielleicht haltbarer ist als die chemisch gereinigte Weiße einer blendenden Gegenwart. Sie haben den Vorteil, uns Ort und Zeit zu vergegenwärtigen, aus denen diese Verse hervorragten, heraussprangen, Die Friedensfeier etwa, das sich das Ende des kalten Krieges ausmalende Gedicht: An Schlagbäumen werden Ochsen und Hammel gebraten/ Von nackten Männern, die waren Soldaten//und besser als Uniformen können/ Wärmt sie das Feuer, drin die Uniformen brennen.

Mickel war siebenundzwanzig, als er das ein Jahr nach der Berliner Grenzverlötung schrieb, und er trat nicht allein an: eine ganze Generation öffnete damals den Mund, weltlustig und ausdrucksvoll, mit allen Wassern alter und neuer Dichtung gewaschen, und den Älteren wurde angst und bange bei diesem Antritt; die Alten hatten sich das Neue mal wieder ganz anders vorgestellt. Ernst Bloch, zu dieser Zeit schon nicht mehr im Lande, konnte als Ahnherr dieses neuen, die umgürtete Tenne des Landes stampfenden Sturm und Drang gelten, der mit der Herrschaft der Arbeiterklasse geistig so ernst zu machen suchte wie einst Klopstock und Lessing mit der Herrschaft des Bürgertums..

1956, als alle noch zur Schule oder Hochschule gingen (oder bereits relegiert waren), hatte Bloch, den jungen Goethe berufend, auf einem Berliner Schriftstellerkongress von der jungen Literatur "die Glut des Sagenmüssens" eingefordert: Naturstimme und Klarheit. Ins Mickelsche übersetzt hieß das Witz und Vitalität, Lakonismus und Formbeherrschung. Sechs Jahre später war das derart Antizipierte auf einmal da und rieb sich bald wund an Tücke und Bestürzung derer, die das Heft in ihrer Hand zittern sahen.

Der Dichter fand damals einen Komponisten, der ein Schutzpatron war. Paul Dessau, der sein Lumumba-Requiem von 1962 vertonte. Ruth Berghaus, der Intendantin, gelang es zehn Jahre später, den ausgebildeten Wirtschaftwissenschaftler zum Leitungsmitglied des Berliner Ensembles zu machen; mehr als die Schauspiel- war die Opernbühne ihm hold. Einstein mit der Musik von Dessau, in der Regie der Berghaus, wurde im Februar 1974 an der Deutschen Staatsoper ein Kulminationspunkt nach allen Seiten; Ensemble begab sich als Inbegriff steigernder Gemeinsamkeit. Aber Hans Wurst, dem die Schlussszene gehörte, wusste schon, auf welch schmalem Grat sich dies alles bewegte; der Autor ließ ihn, zum Lohn einer gewissen Zurückhaltung, auf dem Rasiermesser tanzen. Als das Rasiermesser drei Jahre später zusammengeklappt wurde, verwandelte sich der poeta doctus in den poeta docens, der in Berlin-Oberschöneweide Theater-Eleven im Versvortrag unterwies: Prosodie als Lehrfach einer deutschen Schauspielschule. Das vereinigte Berlin, den Rang dieser Schule erkennend, machte es sich zu eigen und berief den Versmeister zum Professor.

Mickels, des 1935 Geborenen, Ruhestand stand bevor, der ein schöpferischer gewesen wäre; seit langem wuchs in ihm der zweite Band seines Lachmund-Romans unter der Hand. Die Nachricht von seiner Erkrankung kam fast gleichzeitig mit der nach Klopstocks Gelehrtenrepublik benannten Essaysammlung; der Widerhall, den das Buch fand, zeugte, wie schon die Verleihung des nach dem Dichter der Winterreise benannten Literaturpreises und die Mitgliedschaft in der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, von dem über Maßstabsverrückungen einer veränderten Währung hinweg befestigten Ruf eines Poeten, der seine Klause, die keine cellula war, gegen alle Einschnitte verteidigt hatte. Die Erkrankung war schwerwiegend, die Therapie so wirkungsvoll, dass alle, die ihn sahen, sprachen, bei Lesungen hörten, vielleicht auch er selbst, sich über den Ernst der Situation hinwegtäuschen konnten; eine Frist des Wirkens schien gewährt. Eine plötzliche Infektion machte sie zunichte; die Nachricht von seiner Wahl zum Mitglied der in Dresden, seiner Heimatstadt, ansässigen Kunstakademie erreichte ihn nicht mehr. Palimpsest aufschlagend, die Gedichtsammlung von 1990, stoße ich auf Nänie, den der Dritten Ode, dem Doppelhymnus auf die Fußballclubs Dynamo Dresden und Union Berlin, folgenden Abgesang auf die ruhmreiche Dresdner Fußballmannschaft, der in die Verse ausgeht: Lachmann, Lippmann, Trautmann und Hübschmann/ Schülbe, Schlicke, Mecke, Minge und Mittag, was soll das nur werden. Ach, wer besingt uns nun den Untergang des deutschen Nationalfußballs, wenige Jahre nach dem fast spurlosen Verschwinden der Dresdner Spitzenmannschaft? Oder hätten diese verzweifelten Gruppenspiele Mickel zu Versen gar nicht herausgefordert? War er vom Primat des Clubs durchdrungen? Wir hatten lange nicht über Fußball miteinander gesprochen. Auch über Fußball wollten wir in diesem Sommer wieder reden.

Volker Braun

Warum, verdammt, müssen nun Nachrufe sein, wir waren bei Vorworten. Karl ging gefasst aus dem Leben, wie er in ihm ging. Er studierte die Klassiker und das Chaos. Er war ein Dichter in der Zeit der Volkswirtschaft (nach uns die Warenflut) - ein Dresdner Arbeiterkind, sein Beruf die Hochkultur. Er setzte dichtend ein Menschenmaß, mit Strenge und Gelächter. Im Osten war sein Text und Palimpsest, im Westen unbekannt; keine Einzelheiten, das Jahrhundert? Im 22., sage ich voraus, wird er populär sein.

Heinz Czechowski

Er war hochkompliziert und hochsensibel. Beides versuchte er hinter der Maske der Klassizität, aber auch hinter dem Stolz auf seine proletarische Herkunft zu verbergen. Dichtung und Wahrheit lagen da dicht beieinander. Es fiel mir nicht immer leicht, Mickels Gelassenheit in allen Situationen zu ertragen, obwohl ich wusste, dass seine Kühle oft nur vorgetäuscht war. Uns verband nicht nur unsere gemeinsame Herkunft aus Dresden; sowohl als Lektor des Mitteldeutschen Verlags und später bei Reclam hatte ich mit ihm als Autor zu tun. Nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Anthologie In diesem besseren Land, die bekanntlich einen kulturpolitischen Eklat heraufbeschwor und mich arbeitslos machte. Eine Reise nach Bulgarien, die ich in den siebziger Jahren mit ihm unternahm, ist mir ebenso unvergesslich geblieben wie unzählige Anekdoten, die ich mit ihm erlebte. Eines Tages fuhr ich nach Berlin, um seine Gedichtsammlung Odysseus in Ithaka, die ich für Reclam betreute, mit ihm zu besprechen. An seiner Wohnungstür in der Liebknechtstrasse klebte ein Zettel: "Liege mit Lungenentzündung in Friedrichshagen". Tief besorgt fuhr ich dort hin. Hier saß er, eine dicke Zigarre rauchend, lachend im Bett. Nun ist Karl tot, und das Gespräch, das wir nach der "Wende" immer wieder aufgeschoben hatten, wird nicht mehr stattfinden. Ich bin unsagbar traurig.

Dieter Schlenstedt

Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort - das kann, hat man Glück, jedem geschehen. 1965 hörte ich von Karl Mickel solch Wort mit der Frage "Wo bin ich?" Sie stand am Anfang des Gedichts Odysseus in Ithaka, das dann bald einen der großen Skandale im kulturellen Felde aufregte - Mächtige wollten die zäsurbildende Erfahrung nicht hören, dass Heimat nicht erlangt war, neues Erkunden, ein anderer Aufbruch anstand. Sie ergriffen ihre Massnahmen. Dass von da an unaufhebbar Jahre "der vernichteten Hoffnungen" zu datieren seien, so jedenfalls heißt es viel später in Das Alter, wollte ich dem Freund nicht glauben. Mit ihm aber konnte ich doch begreifen: "Die grossen Kunstwerke sind die Leitfossilien ihrer Zeitalter; sie beantworteten die Frage: Wo bin ich?", auch, weil hinter dieser gemilderten Fassung Schlimmeres steckt, "die Verzweiflung der Frage: Wohin denn ich?" Gedrücktheit und Larmoyanz rührten hieraus bei Mickel nicht. Er sprach, auch wenn er laut zu lachen vermochte, mit leiser Stimme, abhold war er dem hysterischen Schrei. Mit der Entsagung kam ein "ästhetischer Kaltsinn" auf, ein soziologischer Blick, der "WeltKunde" leistete und, ganz klassisch, den Menschen als biosozialästhetisch bestimmtes Wesen sichtbar machte. Welch unverschämter Materialismus. Wie sehr hätten wir ihn auch fürderhin gebraucht.

Bert Papenfuß

Ohne Ball brauchst du nicht oben kommen.

Karl Mickel war die Autorität

der deutschen demokratischen Lyrik,

und in Brot und Sold Autorität

der gesamtdeutschen Metrik.

Ein ausgefeilter Solitär

der Verdichtung des neuen Lebens,

das uns abgeht, aber bevorsteht.

Gedrechselt sei's drum, und gepfiffen.

So subtil, wie er uns auf den Arm nahm,

dass wir uns auf allen Vieren relativieren,

kommt keiner mehr daher, keiner wie er,

der selbst im Abseits immer am Ball war.

Karle gibt's

wie Körner im Sand,

aber einen Mickel am ganzen Strand.

Kerstin Hensel

Mein Lehrer, der Dichter Karl Mickel, ist tot. Als gelernter Wirtschaftshistoriker besass er den Blick durch die materiellen Gesetze der Gesellschaften. Der Weg zum Dichter und zum Professor für Verssprache war folgerichtig und zeigte der deutschen Literatur, was zu tun möglich ist. Mickel hasste Unernst und Schlampigkeit. Er war streng, unnachgiebig, gleichsam von höchster Empfindlichkeit gegenüber Faulheit und Unverstand. Er war ein Mann der Strukturen, der den Kopf über dem Herzen trug. Als hochgelehrter Kauz vermittelte er seinen Lesern die unglaublichsten Ein- und Aussichten in die Weltläufte. Zu sagen bleibt, was er selbst sagen würde, dürfte er noch einmal das Wort erheben: "Man lese meine Schriften!"

Friedrich Schenker

Im heutigen Kultur-Gelump der fun-event-cool-geil-biggestbrother-Meuten, der verblödungswilligen, manipulationsgierigen Massen von TV-Debilen war der ehemalige Boxer, Tennisspieler und Rennradfahrer, der Ökonom und Dichter Karl Mickel ein sensibler, kreativer, sinnlicher, kostbarer, elitärer Widerpart. Dass er uns in den Orkus des Nichts verlassen hat, ist sehr schlimm. Aber es bleiben ja noch seine Werke, die er für seine ihm vorstellbare Ewigkeit gedacht hat.

Roter Wein! Musik!

Klaus Völker

Karl Mickel gehörte, Meistern wie Goethe, Klopstock, Lessing, Jean Paul, Wilhelm Müller, Kleist bis zu Johannes Bobrowski und Georg Maurer folgend, zu den gelehrten Poeten, und der Band mit seinen kritischen Aus- und Einlassungen, Vorträgen und Einleitungen trägt völlig zu recht den Titel Gelehrtenrepublik. Die Vergangenheit durchleuchtete er, um ihr Licht erhellend auf die Gegenwart fallen und sie durchdringen zu lassen, sie auf diese Weise spannender und zukunftsträchtiger machend. So sehr ihm die Tradition Lebenselixier und Voraussetzung für das Erfassen und Verstehen der Gegenwart war, so innig zwang er sie aber auch in die Gegenwart, konfrontierte sie mit seinem ganz von der Gegenwart erfüllten Erkenntnisinteresse. Als in Berlin lebender Vertreter der neuen Sächsischen Dichterschule leuchtete er dem Alten und Bewährten heim, er liess sein Gedächtnis "Souffleur des Geistes" sein, den gegenwärtigen Weltzustand dabei nie ausblendend. Klopstocks Welt ging für ihn mit Fußballbegeisterung, Boxsport und deutscher Wirtschaftsgeschichte bestens zusammen. In der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" hatte Karl Mickel eine Professur für Verssprache und Versgeschichte; den Studierenden ebnete er den Weg zum Wesen der Kunstsprache, sie lustvoll das Wechselspiel zwischen Text, Sprache und Bühne erfahren lassend. Sein pädagogisches Prinzip war: durch Lesen und Sprechen Texte verstehen zu lernen und in der Arbeit einander erbarmungslos lachend zu kritisieren: "Der Zeitgeist, was immer er auch fasele, lockt die Töne nicht."

Peter Gosse

Mickel ist tot. In einem Gespräch mit Stefan Amzoll, 1995, hatte er über noch zehn oder 15 Jahre verfügen zu können gemutmaßt, und es schien Mickels Zuhörern und wohl ihm selber während der Leipziger Buchmesse Ende März, als werde dem so; die Therapie musste das ihre augenscheinlich geleistet haben. - Mickel las aus seiner soeben erschienenen Gelehrtenrepublik den Aufsatz Mein Heine, darinnen die durchaus ihn selbst betreffenden Worte zu einem heineschen Gedicht: es "weist die Tröstungen der Religion zurück, wie es die Hoffnungen der Revolution fahren läßt." Mickel drang entschieden auf die Tilgung falschen Bewusstseins vermittels Klarsicht; er befolgte den, von ihm in einer Hommage auf Brecht so formulierten, Poetischen Imperativ: "Blicke Du durch." Mickels Werk, eines von mondialem Rang, deutet, deucht mich, an, dass diese Maxime an jene angrenzt, der schon Klopstocks Gelehrtenrepublik sich unterstellt hatte: "Die Völker auf Geschichte weisen, heißt: sie in historische Handlungen treiben".

Rainer Kirsch

Die Deutschen haben einen großen Dichter verloren. Weiß der Himmel, ob sie verdienen, dass sie es merken. Aber zu wünschen wäre es ja.

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