Mit Ich-Maschine, dem ersten Album von Jochen Distelmeyers Band Blumfeld, erschien vor dreißig Jahren das stilbildende Meisterwerk des deutschsprachigen Diskurs-Rocks. Jetzt veröffentlicht Distelmeyer als Solokünstler zum ersten Mal seit Heavy von 2009 ein Album mit eigenen neuen Songs: Gefühlte Wahrheiten.
Dass darauf drei komplett englischsprachige Songs aus eigener Feder zu hören sind, ist ein Novum – und zugleich das konsequente Produkt des Distelmeyer’schen Duktus. In seinen Liedern tauchten immer schon englische Zitate und Worte auf. Und auch beim Interview über Lüste, kulturelle Aneignung und Zivildienst in einem hip-gemütlichen Café an der geschäftigen Potsdamer Straße in Berlin pflegt er den freien Umgang mit Mehrsp
flegt er den freien Umgang mit Mehrsprachigkeit. Es wirkt dabei nicht affektiert, eher, als würde er singen, auch wenn er nur spricht.der Freitag: Herr Distelmeyer, auf dem Cover Ihres neuen Albums „Gefühlte Wahrheiten“ ist Hieronymus Boschs „Die Schöpfung der Welt“ zu sehen. Zynisch könnte man sagen: Schöner als dort ist die Welt nie gewesen. Es gibt noch keine Menschen.Jochen Distelmeyer: Aber diese creation ist von Bosch sehr farblos gehalten. Die wirkliche Schönheit zeigt sich erst, wenn sich die Flügel dieses Triptychons öffnen – und jetzt auch, wenn man das Cover meines Doppelalbums aufklappt.„Die Schöpfung der Welt“ bildet die Rückseite von „Der Garten der Lüste“.In dem bekommt man den ganzen Reichtum menschlicher und tierischer Existenz präsentiert.Woher kommt Ihre Affinität zu diesem Werk, das von links nach rechts den Weg vom Paradies durch den Garten der Lüste in die Hölle beschreibt?Das ist nicht gesagt, dass sich diese Linearität von links nach rechts ergibt. Es gibt ja andere Lesarten zu dem Bild. Ich finde diese mittlere Darstellung von Menschen und Tieren und Zwischenwesen, von sexueller Begierde als Erfahrungsmöglichkeit einer, wenn man so will, pantheistischen Spiritualität sehr modern und richtig. Ähnlich versucht das Album unseren inneren Empfindungsreichtum abzubilden, zu besingen, zu bespielen.„Die Menschen in den Straßen (...) fühlen nach Vorschrift, sie (...) hassen still vor sich hin, so lang bis ihnen jemand sagt: Wohin mit dem Hass?“, haben Sie 2009 gesungen. Das klingt heute wie eine Vorausahnung der Verschwörungstheorie-Bewegung.Klar. In der Hinsicht finde ich auch das Album-Cover ganz treffend.Und lustig. Bosch zeigt dort die Erde als Scheibe. Vor 500 Jahren war die Flatearth-Theorie populär-wissenschaftliche Doktrin, obwohl gebildetere Stände längst von der Erde als Kugel ausgingen. Das schwingt da mit und wird in Zurück zu mir ja auch direkt angesprochen. Aber eben als Angst-induzierte Massenbewegung der sogenannten Mehrheitsgesellschaft.In diesem Song heißt es: „Nicht nur Nazis suchen Heil in der Zerstörung, kommt mir vor, als wären sie Teil einer Verschwörung.“ Sollte man die Verschwörungstheoretiker mit ihren eigenen rhetorischen Waffen schlagen?Nein. Ich vertraue darauf, dass die Wahrheit sich am Ende durchsetzen wird. Und hoffe, dass das nicht mit Gewalt verbunden sein muss.Etwas später im Lied singen Sie: „Wenn man den Zahlen glaubt, hilft nur noch beten.“Ja, und oft sagen die Zahlen ja auch das Gegenteil von dem, was die Leute in ihnen sehen. Auch das ist dann möglicherweise ein Grund zu beten. Das Glück steht ja immer gegen die Zahl, es entzieht sich jeder Berechenbarkeit und kann nicht geplant werden. Es fällt einem zu. Geschieht. Anstelle des Glücks ist in den modernen Gesellschaften der Erfolg getreten, der ganz in der Zahl aufgeht. In Bilanzen, Gewinnermittlungen und Klickraten. Auch darin äußert sich eine angstvolle und am Ende lebensfeindliche Controllermentalität.Placeholder infobox-1Auf „Gefühlte Wahrheiten“ erinnert Ihr Gesangsstil an US-amerikanische Künstler, wie Stevie Wonder, Michael Jackson oder auch Bob Dylan. Ist dieser Variantenreichtum bewusst erarbeitet?Bewusst nicht. Ich höre nur über einen längeren Zeitraum Lieblingsplatten und lass die Musik wirken, denke nach über die genannten Künstler. Zuletzt auch über viele, die 2016 verstorben sind. Neben Leonard Cohen vermisse ich Prince zum Beispiel am meisten. An Bob Dylan habe ich weniger gedacht, aber das ist sicher zutreffend, in a way. Auch wenn er auf Alben, wo er meint, wie Frank Sinatra singen zu können, einer erstaunlichen Fehleinschätzung unterliegt, ist er natürlich ein großer Sänger. Viel besser als Sinatra. Das wird häufig unterschätzt. Er hat eine Rhythmisierung und Phrasierungen eingeführt, ohne die es John Lennon, ab einer bestimmten Phase, oder Leute wie Liam Gallagher als Sänger gar nicht gäbe.Trotzdem habe ich mich bei Ihrem Song „Tanz mit mir“ gefragt: Ist das nicht schon „kulturelle Aneignung“, zum Beispiel in Bezug auf Michael Jacksons „Get on the Floor“.Also, ohne dass es den Begriff „cultural appropriation“ früher gegeben hätte … ich habe Ende der 80er, Anfang der 90er eigentlich ausschließlich Hip-Hop gehört. Und vieles von dem, was auf Ich-Maschine und L’etat et moi zu hören ist, hat sich aus meiner Auseinandersetzung mit Hip-Hop ergeben. Es stand aber nie zur Debatte, selber Hip-Hop zu machen. Ich hatte das Gefühl: Nein, das steht mir nicht zu. Warum auch? Bei ganz anderen historischen und sozialen Hintergründen begreife ich die Art, wie ich damals geschrieben und vorgetragen habe, als Ausdruck einer inneren Verbundenheit. Nicht nur zu den von mir verehrten Hip-Hop-Künstlern, sondern auch in Verwandtschaft zu Woody Guthrie, Bob Dylan, Mark E. Smith oder Franz Josef Degenhardt. Leute, die was zu sagen haben und sich dafür Zeit nehmen. Diese Verbundenheit ist ja das, was wir in der Beschäftigung mit Musik oder Kunst generell suchen. Wenn ich zum Beispiel Ella Fitzgerald oder Marvin Gaye höre oder ein Bild von David Hockney betrachte, nehme ich durch die Rezeption der künstlerischen Werke Kontakt mit ihnen auf, mit dem ganz konkreten Menschen „dahinter“. Das ist ja der eigentliche Transfer, wenn man so will. Und das ist das, was ich anbiete.Offenbar gibt es da eine Grauzone, die verunsichert. Zum Beispiel überlegt der Pianist Igor Levit in seinem Buch „Hauskonzert“, ob es kulturelle Aneignung wäre, wenn er „Amazing Grace“ spielen würde. Ist Aneignung okay, wenn die Motivation stimmt?Dass er darüber nachdenkt, ehrt ihn. Ob es die richtige Motivation sein muss, weiß ich nicht. Ich würde mir eher Gedanken darüber machen, wie ich etwas spiele und ob ich selber etwas damit verbinde. Dadurch klärt sich schon viel.Eingebetteter MedieninhaltDas wäre zu wünschen.Ja, ich glaube, die Leute wissen grundsätzlich schon sehr genau, was richtig und was falsch ist. Auch Leute, die das Falsche tun, wissen das. Für manche liegt sogar ein gewisser Genuss darin. Bei den Debatten zum Schlagwort „Empathie“ ist mir das aufgefallen. Da habe ich immer gedacht: Das ist doch eine Verdrehung des Begriffs. Jeder Folterknecht ist empathisch, sonst könnte er nicht wissen, dass er anderen wehtut, ihnen Schmerz zufügt und selbst dadurch Lust empfinden. Empathie meint erstmal nur Einfühlungsvermögen. Wenn ich wirklich mit-fühle, also das Leid des anderen teile, es ebenso empfinde, will ich alles tun, dass es aufhört. So wie sich, wenn ich mich für jemanden freue, eine andere Art des Mitseins ergibt.1991, im Jahr der ersten Blumfeld-Single, gab es unter den zehn meistverkauften Alben nur ein deutschsprachiges: „Live“ von Westernhagen. Jetzt, Mitte Juni 2022, sind allein in den Top 5 schon Rammstein, Hansi Hinterseer und Schandmaul vertreten. War es auch ein rebellischer Akt gegen diese Akzeptanz des Deutschen im Mainstream, jetzt auf dem neuen Album auch drei eigene englische Songs zu veröffentlichen?Diese Songs sind vor drei, vier Jahren in kurzer Zeit entstanden, als ich überlegt hatte, im Stil amerikanischer Trap-Künstler ein englischsprachiges Country-Mixtape herauszubringen. Der Gedanke an einen fremdsprachigen Kontrapunkt zur hiesigen Musiklandschaft hat mich natürlich auch gereizt. Aber die Hauptfragestellung hinter der Idee war eine andere: Warum taucht zu einem bestimmten Zeitpunkt – via Taylor Swift und anderen – Country wieder verstärkt im US-Mainstream auf? Was unterscheidet Countrymusik signifikant von anderen Musikformen, die sich aus dem Blues entwickelt haben? Während der Bluessänger den Gospelchor verlässt und allein sein Leid besingt, bleibt der Countrymusiker der Gemeinde treu und spielt zum Tanz auf. In den USA nach 9/11 und Bankencrash ging es kulturell um die Frage: Wer sind wir eigentlich? Noch God’s Own Country oder nur ein verpufftes Traumgebilde, das wir uns und der ganzen Welt erzählt und damit über unsere Brutalität und strukturelle Ostblockhaftigkeit hinweggetäuscht haben? Was war noch mal Männlein/Weiblein, Liebe, Familie, Nation? Davon handelt dann die amerikanische Serienkultur. Und ein paar Jahre später wird diese Fragestellung von der wahlberechtigten Mehrheitsgesellschaft mit Donald Trump beantwortet.Zur Begriffsklärung: „Trap“ ist ein Hip-Hop-Genre, das sich in den 90ern in den Südstaaten entwickelte. Ein Stilmittel ist die musikalische Basis aus verlangsamt abgespielten Teilen eines bestehenden Songs im Kontrast zu einer markanten, schnell gespielten Hi-Hat.Ja, Trap ist quasi der Punk-Rock des Hip-Hop. Man muss nicht mehr elaboriert rappen können. Es reicht, wenn es immer dieselbe Hi-Hat ist. Unsere Eltern hätten gesagt: Das klingt ja alles gleich! Ja, aber da wird es ja eigentlich interessant. Es ist also eine Punk-Attitüde. Gepaart mit konsumaffiner Aufsteigermentalität. Aber das, was erzählt wird und wie, kommt vom Blues. Als dann Lil Nas X mit Old Town Road um die Ecke kam und Country mit Trap quasi vermählte, dachte ich nur: „Wie geil! Muss ich mich nicht mehr drum kümmern.“Eine letzte Frage ...Yes, sure.Gerade wird wieder über die Rückkehr des Zivildienstes diskutiert. Haben Sie als ehemaliger Zivi eine Position dazu?Ach, das wird diskutiert? Hab’ ich gar nicht mitbekommen. Ich fand den Zivildienst damals gut, es war eine wichtige Erfahrung für mich. Ich weiß nicht vor welchem Hintergrund das jetzt diskutiert wird.Zum einen ist das wohl die zwangsläufige Konsequenz aus der durch den Ukraine-Krieg wieder aufgetauchten Wehrpflicht-Debatte. Und zur Bekämpfung des Pflegenotstands käme der Zivildienst sicher auch ganz gelegen.Wenn das der Hintergrund ist, dann sollten sie den Leuten lieber mehr bezahlen, die professionell ausgebildet sind, in der Pflege zu arbeiten. Aber ansonsten: Klar! Es ist immer gut, die Erfahrung zu machen, jemandem, den man nicht kennt, bewusst zu helfen.
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