Blut aus dem Cola-Becher

STUDENTENALLTAG AN DER BAIDA-UNIVERSITÄT Zehn Jahre nach dem Massaker auf dem Tiananmen interessiert vor allem die Karriere - wenn die NATO nicht gerade die chinesische Botschaft bombardiert

Immer wenn eine Kerze heruntergebrannt ist, kommt jemand und entzündet eine neue. Dutzende weiße Lichter sind mit Wachs auf die graue Erde geklebt. Unter den Fotos der Journalisten, die bei dem Bombenangriff auf die Botschaft in Belgrad ums Leben kamen, liegen auch traditionelle Opfergaben wie frisches Obst und Süßigkeiten. Hinter der Bibliothek der Peking Universität befand sich schon immer die Wandzeitungsecke. An Mauern und Stellwänden kleben jetzt wieder rote Poster und weiße Zettel - zumeist flammende Aufrufe, sich zu wehren. Mit dem Pinsel getuscht oder als Computerausdruck beschäftigt sie weiterhin nur ein Thema - die Empörung über die Bomben von Belgrad.

Die studentische Bewegung von 1989 für mehr Freiheit und Demokratie, gegen einen korrupten Apparat und die Pressezensur begann ebenfalls an der Elite-Universität Beida. Damals gaben die Proteste der Studenten ein Signal an alle anderen Lehranstalten - bis sie schließlich in der Nacht zum 4. Juni militärisch zerschlagen wurden. 70 Jahre zuvor hatte an der Beida die »Bewegung des 4. Mai« 1919 gegen das Diktat von Versailles und den japanischen Militarismus, für Demokratie und Gerechtigkeit ihren Ausgangspunkt gefunden. Sie signalisierte damals den Aufbruch Chinas in ein neues Zeitalter. Auch bei der zerstörerischen »Großen Proletarischen Kulturrevolution«, mit der Mao Zedong 1966 China in seiner Entwicklung um 20 Jahre zurückwarf, stand die Pekinger Universität im Zentrum des politischen Geschehens.

»Mit Menschenrechten brauchen die uns nicht mehr zu kommen«, sagt eine Studentin der serbischen Sprache, und die Umstehenden stimmen ihr bei. Sie hat zwei Jahre in Belgrad studiert, und man merkt ihr die Bestürzung über die alltäglichen Fernsehbilder aus Jugoslawien an. Und MilosŠevic´ und die Kosovo-Flüchtlinge? »Das war an unserem Institut kein Problem, Serben und Kosovaren haben sich stets gut vertragen.« Man weiß hier wenig über die Vertreibungen im Kosovo. Immerhin gibt es auch im Reich der Mitte ethnische Minenfelder wie Tibet und Xinjiang oder die allgegenwärtige Drohung, Taiwan mit Waffengewalt zurückzuholen, wenn die Insel in die Unabhängigkeit abzudriften droht.

Vor den Anschlägen in der Meinungsecke herrscht dichtes Gedränge. Auf ein mannsgroßes Transparent ist ein Cola-Pappbecher geklebt, aus dem sich blutrote Farbe über das weiße Papier ergießt. »Das ist die amerikanische Zivilisation, die wir bewundern sollen«, steht darüber. Ein 18jähriger drängt sich durch die Lesenden und pappt zwei Blätter an die Pinnwand. »Sogenannte kühle Köpfe, Intellektuelle und Geldleute wollen uns einreden, mit den Protesten und dem Boykott amerikanischer Waren aufzuhören«, beklagt der Schreiber und fragt, ob nicht der Boykott japanischer Waren 1919 ebenso zur »Bewegung« gehört habe wie die Straßenproteste? Mit dem Kugelschreiber schreibt er unter sein Flugblatt, daß der Text schon mehrmals abgerissen worden sei, weil er gegen die offizielle Linie verstoße.

Die heißt Stabilität, Reform und weitere Kooperation mit dem Westen und ist auf den Wandzeitungen stark vertreten. »Leute, die das Wesen unseres Landes und unserer Universität verzerren wollen, haben versucht, die Demonstrationen für ihre Zwecke auszunutzen«, heißt es in einer Redaktionsmitteilung der Studentenzeitung Beida-Jugend. Man solle nicht zulassen, daß »Unruhe in die Herzen der Jugend getragen« und die Einheit der Nation gefährdet würde. Meinungen sollten deshalb nur an genehmigter Stelle angeschlagen werden und das Große und Ganze widerspiegeln - nämlich den Vorrang der Wirtschaft, der Reformen und Öffnung des Landes. Die meisten aber wollen davon nichts wissen. Sie sind unzufrieden mit ihrer Regierung, weil sie die Proteste abgewürgt hat und gegenüber den USA Schwäche zeigt. »Wir lassen uns die Bedingungen für den Beitritt zur WTO (*) nicht diktieren«, schreit ein grelles Plakat und meint Premier Zhu Rongji, der wegen seiner Kompromisse gegenüber den Amerikanern in der WTO-Frage innenpolitisch unter starken Druck geraten ist. Eine andere Wandzeitung fordert dazu auf, die »japanischen Teufel« niederzumachen und ihre Pekinger Botschaft in Brand zu stecken. Während der Proteste im Diplomatenviertel hatte ein japanischer Student versucht, die NATO-Logik zu verteidigen und dabei angeblich eine chinesische Studentin geschlagen.

Die seit Monaten von der Partei- und Staatsführung geschürte Flamme des »Patriotismus« - die Bomben auf die chinesische Botschaft haben sie hochschlagen lassen und die Studenten mehr gegen die USA aufgebracht, als der Regierung lieb ist. Der Boykott von US-Waren schadet uns, warnt das Blatt China Daily, nachdem manche öffentlich »Nike«-Turnschuhe, die Hamburger von McDonald's und amerikanische Autos kritisiert hatten. Die Kinos nahmen amerikanische Kassenfüller aus dem Programm und holten dafür Streifen aus dem Archiv, in denen die jugoslawischen Partisanenkämpfe im II. Weltkrieg heroisiert oder GI's aus Vietnam vertrieben werden.

Ni Jiatai, Vorsitzender einer Shanghaier Studentenorganisation, findet das falsch: »Wenn wir keine Buicks von General Motors kaufen und die Zusammenarbeit mit GM beenden, würde uns das nicht gut bekommen«, warnt er die Hitzköpfe und erinnert daran, das mit 1,5 Milliarden Dollar größte Investitionsprojekt in China, an dem der US-Autohersteller beteiligt sei, habe 3.000 Arbeitsplätze geschaffen. Damit liegt er auf der offiziellen Linie. Hu Jintao, Mitglied des Ständigen Ausschusses des KP-Politbüros, hatte, als die Studentendemonstrationen kulminierten, dringlich davor gewarnt, die Öffnungspolitik in Frage zu stellen und dazu aufgerufen, das Gesamtbild im Auge zu behalten - die Stärkung des Landes durch ökonomischen Aufbau. Mit 64 Jahren ist Hu - stellvertretender Staatspräsident und Ziehkind von Partei- und Staatschef Jiang Zemin - der jüngste im inneren Führungskern der Partei. Als einstigem Vorsitzenden des Kommunistischen Jugendverbandes fiel ihm die Aufgabe zu, die teils gewaltsamen Proteste gegen die US-Botschaft zwar nachdrücklich zu billigen, aber auch unter Kontrolle zu halten und die aufgebrachten Studenten nach vier Tagen wieder von der Straße zu bringen - rechtzeitig genug vor dem 10. Jahrestag des Panzereinsatzes vom 4. Juni.

Abseits der Meinungsecke herrscht an der Beida längst wieder Normalität. Im neuen Hörsaal der Naturwissenschaften wird über Speicherkapazitäten von Computern doziert. Eine Studentin im Minirock geht mal eben vor die Tür, weil ihr Handy gepiept hat. Im Foyer der Mathematik-Fakultät sucht eine amerikanische Softwarefirma chinesische Absolventen. Keiner hat die Stellenanzeige abgerissen, aber mehrere Streifen mit der Telefonnummer fehlen. An der Qiuzhijie, der »Straße zum Erwerb von Wissen«, werden T-Shirts verkauft, die chinesische Gesichter als »Target« für Nato-Bomben zeigen. Daneben liegen andere mit den Gesichtern von Michael Jordan oder Madonna. Auch die Universitäts-Buchhandlung wurde nicht »gesäubert«. Gleich am Eingang liegt eine neue chinesische Ausgabe der Bibel, dahinter Bücher über Finanzwirtschaft, Computer und Raumfahrt. Im Regal mit den Fremdsprachenkassetten stehen die Aussagen von Monika Lewinsky; gleich darunter zwei Kassetten Crazy English - Clinton in China. Beide Tondokumente sind auf dem Umschlag reich bebildert und zu einem Preis von umgerechnet sechs Mark zu haben. Die schwarze Anschlagtafel vor der Fakultät für Geschichte ist mit Terminen zugeklebt. Die Proteste sind vorbei, und in wenigen Wochen beginnen die Prüfungen.

(*) Welthandelsorganisation

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