Theater Krieg, Untergang, Vergewaltigung: Ferdinand Schmalz bürstet in Worms das „Nibelungenlied“ auf feministisch und apokalyptisch. Das ist erschreckend aktuell
Vor dem salisch-staufischen Dom, Originalschauplatz des Nibelungenlieds, eine schillernde Wasserfläche: Nebel, Eismeer, Brünhilds Welt. Siegfried taucht auf, Goldfetzen auf der Schulter. Er will Brünhild freien. Die gewährt dem Drachentöter, dem sie auf Augenhöhe zu begegnen glaubt, eine Liebesnacht: heftige Beinschläge, Wasser schäumt, während die Nornen das dahintreibende Paar beäugen. Genija Rykovas Brünhild schwimmt, taucht, kämpft mit dem Wasser wie Siegfried, dessen Heldentum Felix Rech in einem poetischen Monolog dekonstruiert. Großartig, wie Rech das Retardierende des Schmalz’schen Sounds – Sätze werden nicht zu Ende geführt, werden wiederholt und variiert – umsetzt. Die Nornen, stimmgewalt
stimmgewaltige Punkerinnen (Lia von Blarer, Sonja Beisswenger und Susanne-Marie Wrage), greifen in die Handlung ein und führen die Figuren wie Puppen vor – Kleists Über das Marionettentheater grundiert Ferdinand Schmalz’ Nibelungenüberschreibung hildensaga, die der Spur der Frauen folgt: Agieren Frauen anders?Am Burgunderhof ist das Wasser in einem Pool gebändigt, ins Stahlbecken wurden 90.000 Liter Wasser gepumpt – problematisch angesichts der Dürre vor der Haustür. Doch wir genießen die temporäre Installation von Bühnenbildner Palle Steen Christensens durchaus: herrlich dekadent, wie die Burgunder-Elite in einer Art Lumbung am Pool abhängt. Strandklänge dringen aus einem schwarzen Kubus, oben spielt die Band, unten reihen sich Flaschen und Gläser.Zu feiern ist schließlich das zwanzigjährige Jubiläum der Festspiele, deren Intendant, Ufa-Chef Nico Hofmann, mit Albert Ostermaier, Feridun Zaimoğlu, Lukas Bärfuss und zuletzt mit dem Bachmannpreisträger Schmalz, Jahrgang 1985, die Stars der jüngeren deutschsprachigen Dramatiker-Szene nach Worms geholt hat.Burgunderkönig in AdilettenKriemhild gibt ihren momentanen Status bekannt: Rückzug auf sich selbst. Gina Haller spielt sie als Glamourgirl, das die Hohlheit des Hofs durchschaut. Brünhild wird auf einem Floß angeschleppt. Siegfried hat sie für Gunter im Dreikampf besiegt und kriegt dafür Kriemhild. Franz Pätzold gibt – in schöner Distanz zur eigenen Rolle – die Burgunderkönigsmemme Gunter im mit Hortensien bedruckten Anzug und Adiletten. Doppelhochzeit. Siegfried muss für Gunter noch mal einspringen. Kriemhilds Brüder Giselher (Joshua Seelenbinder spielt den sensiblen Lieblingsbruder, der mit seinem Gewissen nicht klarkommt) und Gernot (Nicolas-Frederick Djuren gibt den opportunistischen Brudermörder) und der skrupellose Hagen (smart, im Businessanzug: Heiko Raulin) relaxen auf Liegen, während, sie wissen es genau, Siegfried Brünhild vergewaltigt. Gellender Schrei der Nornen.Noch ein paar retardierende Momente, dann klappt es mit der Frauensolidarität. Kriemhild kommt Brünhild auf dem Steg entgegen und gibt ihr den Gürtel zurück, den Siegfried der Rivalin, die zur Verbündeten wird, abgenommen hat. Fabelhaft, wie Gina Haller Kriemhilds Emanzipation zur wutentschlossenen Kämpferin zeigt. Der Gürtel, der Brünhild übermenschliche Kraft verleiht, ist ein Geschenk der Riesin Angrboda, der Mutter des – jetzt entfesselten – Fenrir. Dieser Wolf, angedeutet durch Kriemhilds zur Wolfsfratze mutiertes, auf Bildschirme projiziertes Gesicht, ist die Untergangsmetapher schlechthin.Schmalz hat sein Lieblingstier aus der Edda ins Stück hineinkopiert, so wie die Nornen und Wotan (Werner Wölbern schön selbstgefällig als alter weißer Mann). Wegen der Pandemie wurde die Uraufführung um zwei Jahre verschoben und Schmalz hat den Text angesichts des Ukraine-Kriegs noch einmal zugespitzt. Doch die Rachemechanik, von der sich die Frauen ebenso wenig lösen können wie die Männer, war schon in der ersten Fassung angelegt. Es sei „gruselig, dass der Zeithorizont den Text einholt“, sagt Schmalz in einem Gespräch vor der Premiere.Nach der Pause: Moorlandschaft, sumpfiges Wasser, darin dümpeln zerborstene Kirchenbänke, Verweis auf den Dom, der mit Schlingpflanzen überwuchert wird – ein fantastisches Spektakel (dank Videomapping); Menetekel für den Untergang der Zivilisation. Während der Jagd, die Frauen sind dabei, ersticht Hagen den Liebesverräter, den Vergewaltiger Siegfried, im Auftrag der Frauen. Doch Hagen verfolgt sein eigenes Kalkül. Im Faust-Nietzsche-Ton feiert er „die schönheit dieses augenblicks“, den Zynismus seines Freiheitsbegriffs: „die entschlossenheit zu töten“. Wer dächte da nicht an den Aggressor Putin? Frauen und Männer verirren sich im Wald, jagen einander, das endet, wie gehabt, im Blutbad. Allein Brünhild überlebt. Auf allen vieren kriecht sie im blutroten Wasser auf uns zu. Ihr großer, trauriger Monolog gilt den unerlösten Toten, die unsere kollektive Erinnerung besetzen, und uns allen, die wir den „wolf“ im Gesicht tragen: „dort draußen lauern wölfische zeiten“, lautet der letzte Satz. Sie sind, was Putins Krieg betrifft, schon da. Schmalz’ Nibelungen-Adaption ist von erschreckend aktueller Relevanz.Placeholder infobox-1
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