Blüten und Hetzparolen

Wiederausgegraben In "Evdokija" zeichnet der russische Schriftsteller Leonid Dobycin ein Bild der russischen Provinz vor dem Ersten Weltkrieg

Das literarische Werk von Leonid Dobycin (1894-1936) liegt in Russland erst seit 1999 vollständig vor - 23 Erzählungen, zwei kleine Romane. Die wichtigsten Texte des Schriftstellers sind auch auf Deutsch erschienen, allerdings bei verschiedenen Verlagen. 1989 brachte S. Fischer den Roman Die Stadt N. in der Übersetzung von Gabriele Leupold heraus, 1992 Reclam Leipzig das schmale Bändchen Teetrinken, übertragen von Alfred Frank, 1993 folgte Piper mit vier von Rosemarie Tietze übersetzten Erzählungen in der Anthologie Muschiks Underground. Zuletzt erschien bei Friedenauer Presse der Roman Im Gouvernement S. Šurkas Verwandtschaft (1996), übersetzt von Peter Urban. Während Die Stadt N. in Deutschland noch relativ zurückhaltend aufgenommen wurde, fand Šurkas Verwandtschaft bei der deutschen Kritik als Meisterwerk der späten Leningrader Avantgarde großen Anklang. Seither gilt jeder neue Text aus dem Œuvre des Autors bei Freunden der russischen Literatur als Geheimtipp.

Dobycin wurde am 5. Juni 1894 im baltischen Ljucin als Sohn eines Arztes und einer Hebamme geboren. Seine Kindheit verbrachte er in Dünaburg (Dwinsk, Daugavpils). In Brjansk, wohin es die Familie 1914 verschlug, arbeitete Leonid von 1918 bis 1934 als Statistiker. 1923 begann er zu schreiben, in der Regel nur sonntags, unter denkbar ungünstigen Bedingungen. Die Familie wohnte zu fünft in einem Zimmer, die Angehörigen zeigten kein Verständnis für literarische Ambitionen, die geistige Enge der Provinzstadt war erdrückend. Es bedurfte erheblicher Anstrengungen, um 1927 die Begegnungen mit Lis und 1931 den Erzählband Das Porträt zu publizieren (der neben den neun alten auch sieben neue Geschichten enthielt). 1934 gelang Dobycin der Sprung nach Leningrad, wo ihm der Schriftstellerverband ein winziges Zimmer zuwies. Die letzten anderthalb Jahre vor seinem tragischen Tod wurden zur fruchtbarsten Schaffensperiode.

Die offizielle sowjetische Literaturkritik verweigerte Dobycin von Anfang an die Anerkennung. Sie bezeichnete Das Porträt als "schändliches Buch" und Produkt der "neobourgeoisen Literatur". Während der "Formalismus"-Debatte, die auch zur Absetzung von Schostakowitschs Oper Die Lady Macbeth von Mzensk führte, traf Dobycin der Vorwurf, Die Stadt N. sei ein "feindliches" Werk, das die "bürgerliche Vergangenheit" idealisiere, der Autor stehe unter dem Einfluss von James Joyce und verherrliche das "Kleinbürgertum". Auf einer Versammlung der Leningrader Schriftsteller im März 1936 einer vernichtenden ideologischen Kritik unterzogen, verschwand Dobycin kurz darauf spurlos. Obwohl sein Leichnam nie gefunden wurde, ist anzunehmen, dass er sich das Leben nahm.

Die Erzählung Evdokija war Teil eines 76 Seiten starken Manuskripts, das 1923 entstand. Dobycin schickte es 1924 mit der Bitte um Begutachtung an den Dichter Michail Kusmin, einer literarischen Autorität in St. Petersburg. Kusmin antwortete nicht. Der Text blieb ungedruckt. Eine erweiterte Fassung überließ Dobycin Weniamin Kawerin, einem Mitglied der Petersburger Künstlergruppe "Serapionsbrüder", der 1988 die Veröffentlichung anregte.

Evdokija führt den Leser in ein namenloses Städtchen im Baltikum, am Zusammenfluss von Dwina und Eldyžka. Anfangs wirken Ort und Landschaft idyllisch. Es riecht nach Lindenblüten und Jasmin. Auf den Fensterbänken stehen Nippsachen. Feriengäste aalen sich in Hängematten. Kinder baden. Eine Kuh steht mit den Vorderfüssen im Wasser. Die Läden schmücken phantasievolle Aushängeschilder eines Laienkünstlers: Freitags gibt es Kuchen und "billige jüdische Mahlzeiten". Von einer Anhöhe leuchten zwei Kirchen, die eine groß und katholisch, die andere klein und russisch-orthodox. Doch die Idylle trügt. Im Untergrund wirken nationale und konfessionelle Spannungen, der Erste Weltkrieg steht unmittelbar bevor.

Drei Witwen, stolz auf ihre Kanarienvögel, Spitzengardinen und Gummibäume, stehen im Mittelpunkt der Erzählung. Anna Ivanovna pflegt, Hund bei Fuß, in ihrem roten Hauskleid am Fluss zu sitzen und durchs Fernglas zu beobachten, wie der Lehrer badet und der Steuereinnehmer und seine Frau sich im Garten wichtig machen. Anna Francevna trägt einen Strohhut mit Blumen und kaut beim Spaziergang mit Anna Ivanovna durch, was die Gerüchteküche so zu bieten hat - dass der Lehrer ein japanischer Spion sein soll, die Steuereinnehmerfamilie sich zu viel einbilde und die katholische gräfliche Sippe im "Palazzo" dem "Fanatismus" verfallen sei. Die schwarzgewandete Katerina Aleksandrovna treibt der Ehrgeiz, im Städtchen die erste Geige zu spielen und mit der polnischen Gräfin auf gleicher Augenhöhe zu parlieren. Deshalb heckt sie die Idee aus, die unscheinbare Eldyžka zum "Fluss der heiligen Evdokija" zu erklären. Doch die Gräfin zeigt ihr die kalte Schulter. Woarauf Katerina die Frauen der Honoratioren aufwiegelt und die Russen im Städtchen gegen die "jesuitischen Umtriebe" der Polen mobilisiert. Im Verein mit einer militanten Bruderschaft wird eine Prozession mit Kreuzen, Kirchenfahnen und Ikonen veranstaltet. Überall erklingt die Zarenhymne. Für den Großfürsten wird ein Denkmal eingeweiht, eine Parade russischer Soldaten findet statt. Der Bischof schickt Katerina die Ikonen der Märtyrerinnen Ekaterina und Evdokija. Plötzlich reden alle vom baldigen Krieg. Als die Nachricht vom Kriegsausbruch eintrifft, ruft Katerina mit der Meute vor dem Haus des Lehrers: "Nieder mit Deutschland!"

Dobycin blickt hinter die Fassaden, schaut den Leuten aufs Maul und entlarvt dabei so manche Phrase. Die schmucklosen, knappen Sätze mit ihren ungewöhnlichen Inversionen, die Fülle direkter (oft fehlerhafter) Rede, sein Lakonismus und Minimalismus sind die Markenzeichen einer avantgardistischen Prosa, die sich nur noch mit den Miniaturen Isaak Babels vergleichen lässt. Peter Urban hat Evdokija mit sicherem Gespür für den Stil des Autors übersetzt und kommentiert.

Leonid Dobycin Evdokija. Eine Erzählung. Aus dem Russischen übersetzt von Peter Urban. Friedenauer Presse, Berlin 2008. 32 S., 9,50 EUR

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