Bockwurst war früher

Mitbestimmung Immer mehr Beschäftigte nutzen kollektiv betriebene Blogs, Facebook-Gruppen oder Twitter, um ihre Interessen durchzusetzen
Ausgabe 30/2014

Es war ein Alarmsignal, das Marc Tinger am 10. April kurz nach Mittag ins Internet stellte. In der Eisengießerei GZO im ostfriesischen Aurich stand die Betriebsratswahl an, doch ob sie frei und fair verlaufen würde, war alles andere als sicher. Von „Einschüchterungsversuchen“ war die Rede, Kollegen seien „gedrängt worden, Kandidaten der Geschäftsführung zu wählen“, bei Besuch der Wahlversammlung seien „Konsequenzen“ angedroht worden. Die Wahl drohte zu scheitern, bevor sie begonnen hatte. Das kam nicht überraschend. GZO ist das Tochterunternehmen des größten deutschen Windanlagenbauers Enercon, der nicht gerade als gewerkschaftsfreundlich gilt. Jetzt drohte offenbar eine Eskalation. „Wir mussten verhindern, dass die Einschüchterungen der Geschäftsleitung erfolgreich sein würden“, sagt Tinger. Die IG Metall machte die Vorgänge auf ihrem Blog Windstärke13.info öffentlich. Stunden später hatten 60 Leute die Meldung kommentiert – für einen Betrieb mit 300 Beschäftigten eine Menge. Kollegen machten sich Mut, erzählten von anderen Fällen, verabredeten sich, zur Wahl zu gehen. „Das Blog hat den Beschäftigten geholfen, in kurzer Zeit die Initiative zurückzugewinnen“, sagt Tinger. „Allein mit Flugblättern wäre das nicht möglich gewesen.“

Gewerkschaften und Social Media, das klingt nicht wirklich nach natürlichen Verbündeten. Bis vor kurzem bestimmten im Internet altbackene Homepages das Bild, die eher bessere Verlautbarungsplattformen waren als interaktive Webseiten. Und auch die Profile in sozialen Netzwerken wie Facebook zeichneten sich durch eine gewisse Lieblosigkeit aus. Doch die Zeiten ändern sich, auch bei den Dinosauriern der Arbeiterbewegung. Ob Amazon, Enercon oder die Tarifrunde im öffentlichen Dienst – IG Metall, Verdi und Konsorten setzen heute immer öfter auf kollektiv betriebene Blogs, Facebook-Gruppen und Twitter. „Mobilisierer“ und „Mobilisierte“ sollen gemeinsam ein neues Feld der Auseinandersetzung betreten, jeder zugleich Sender und Empfänger sein. Die Erfahrungen zeigen: Gerade in Arbeitskämpfen und harten Auseinandersetzungen scheinen Social Media die Gewerkschaften stärker zu machen.

Jüngstes Beispiel war die Tarifrunde im öffentlichen Dienst. Wenn Kitas schließen oder Busse in ihren Depots bleiben, gibt es in der Öffentlichkeit häufig kaum Verständnis für Arbeitskämpfe. Früher versuchte Verdi mit Presseerklärungen die öffentliche Meinung auf ihre Seite zu ziehen – der Erfolg war meist überschaubar. Doch bei den vergangenen Warnstreiks drehte sich der Wind: „In der letzten Runde erklärten Erzieherinnen und Busfahrer bei Facebook und Twitter, warum sie sich zum Streik entschlossen hatten“, sagt Romin Khan, der bei Verdi das Mitgliedernetz und die Social-Media-Kanäle betreut. „Wir hatten auf der zentralen Verdi-Facebook-Seite mitunter 800 Kommentare am Tag. So wurde deutlich, dass es nicht um einen Konflikt ging, den eine Gewerkschaftszentrale vom Zaun gebrochen hatte, sondern um eine Angelegenheit von ganz normalen Leuten.“ Das kam an: Die Zahl der Facebook-Freunde von Verdi schnellte von 17.000 hoch auf 22.000. „Für viele unserer Aktiven“, sagt Khan, „ist Facebook inzwischen das wichtigste Informationsmedium.“

Neulich bei Netto

Chancen gebe es vor allem da, wo die Gewerkschaften eher schwach aufgestellt sind, sagt Hubert Thiermeyer. Er ist bei Verdi Bayern verantwortlich für den Handel und gilt als Vordenker in Sachen Social Media. Den gemeinsamen Schichtbeginn und die gemeinsame Pause gibt es in vielen Unternehmen nicht mehr. Beschäftigte kommen oft nicht mehr zusammen, um über ihre Probleme im Betrieb zu reden. „Doch die gemeinsame Reflexion ist die Voraussetzung dafür, aktiv zu werden“, sagt Thiermeyer. „Dafür braucht es einen Raum. Wenn es diese Räume heute in vielen Unternehmen physisch nicht mehr gibt, kann ein gemeinsames Blog oder auch eine Facebook-Gruppe helfen, ihn zumindest virtuell wiederherzustellen“, meint der Gewerkschafter. Das Web 2.0 sei ein Werkzeug, um betriebliche Gewerkschaftsarbeit zu revitalisieren.

Das Netz ist jedoch noch aus einem anderen Grund für die Gewerkschafter wichtig: Es kann Transparenz schaffen: „Die Unternehmer haben oft mehr Angst vor Blogs als vor Streiks“, sagt Thiermeyer. Schließlich will kein Unternehmer, dass die innerbetrieblichen Probleme in der Öffentlichkeit bekannt werden. Ein gutes Beispiel ist etwa das Blog neulich-bei-netto.de. Edekas Discount-Gruppe hat ein schwieriges Verhältnis zu Gewerkschaften. In Göttingen gelang es Verdi 2012 trotzdem in einigen Filialen, Vertrauensleute zu wählen – die ersten bei einem deutschen Discounter überhaupt. Der Konzern schloss daraufhin vier Filialen und entließ Angestellte. „Wir mussten bundesweit reagieren“, sagt Gewerkschaftssekretärin Katharina Wesenick. „Allein in Göttingen war der Kampf nicht zu gewinnen. Um eine konzernweite Vernetzung auf den Weg zu bringen, haben wir das Blog Neulich bei Netto eingerichtet.“ Betriebsräte, Politiker und Leute aus der Nachbarschaft erklärten sich – mit Foto und Namen – solidarisch mit den entlassenen Mitarbeitern. Netto nahm die Kündigungen draufhin zurück. Das Blog wurde zu einer Art Kampftagebuch, diente aber auch der Pressearbeit. „Viele Journalisten haben die Informationen genutzt“, sagt Wesenick, „denn sie waren authentisch.“ Um diesen Charakter zu bewahren, bloggen auf der Seite nur einfache Beschäftigte. Gewerkschaftssekretäre halten sich heraus.

Bitte präzise formulieren

Für die Hauptamtlichen bleibt dennoch genug zu tun: Ihr Job ist es, Infrastruktur bereitzustellen, Know-how zu vermitteln, zu organisieren. „Mein Traum ist es, eine Art Internet-Aktivenkreis zusammenzubringen“, sagt Alexander Reise, der bei der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG Bau) das Blog wir-bauen-fuers-leben.de betreut. Bauarbeiter und digitale Medien – geht das zusammen? Tablet in der Mörtelgrube? Reise lacht. „Heute, da praktisch jeder ein Smartphone hat, sind alle internetaffin.“ Weil das allein aber nicht reicht, organisiert Reise Blogger-Schulungen: Wie schreibe ich einen prägnanten, verständlichen Kurztext? Wie wähle ich einen Bildausschnitt? Wie erstelle ich auf der Baustelle vom Notebook aus einen Blogpost?

Nicht alle sind begeistert. „,Was bringen diese Miniaktionen, über die ihr im Blog berichtet?‘, habe ich oft gehört“, sagt Reise. Tatsächlich sehen viele Posts im IG-Bau-Blog so aus: Drei Leute stehen mit ihrer Gewerkschaftsfahne vor einem Bagger und fordern: Her mit dem Tarifvertrag. „Na und?“, sagt Reise. „Wenn sich drei Kollegen mit Namen und Gesicht so bekennen, hat das mehr Gewicht, als wenn 100 Leute irgendwo einem Gewerkschaftssekretär bei einer Rede zuhören und zusammen Bockwurst essen.“ Anderswo wurden rechtliche Bedenken ins Feld geführt. Wer öffentlich Vorwürfe gegen Unternehmen erhebe, müsse jede Formulierung genau prüfen, um sich nicht juristisch angreifbar zu machen. In der Tat ist es für Beschäftigte riskant, Unternehmensinterna an die Öffentlichkeit zu bringen – schließlich kann das zur fristlosen Kündigung führen. Viele Blogger achten deshalb darauf, ihre Anonymität zu wahren. Um das zu unterstützen, werden die Webseiten formal von lokalen Gewerkschaftsgruppen betrieben, die dann auch presserechtlich verantwortlich sind. Diese Praxis ist erfolgreich. Abmahnungen und Klagen halten sich in Grenzen, heißt es bei Verdi. Die Arbeitgeber scheuen offenbar die schlechte Presse, die sie sich mit einem überzogenen Vorgehen einhandeln könnten.

Schließlich gibt es in den Gewerkschaften auch die unterschwellige Angst vor Kontrollverlust – auch wenn man in den Zentralen nicht gern darüber redet. Wenn Basismitglieder ihre eigenen Kommunikationsstrukturen erobern und ihre Bedürfnisse artikulieren – wer garantiert, dass sie dann auch „das Richtige“ sagen? Auch beschleunigt das Internet ungemein. Ärger bricht sich heute praktisch in Echtzeit bei Facebook und Twitter Bahn. Bedrohlich findet Verdi-Sekretärin Wesenick das nicht: „Angst vor Ansprüchen der Mitglieder an ihre Gewerkschaft ist ein Luxusproblem“, meint sie. „Unzufriedenheit gepaart mit der Bereitschaft, aktiv zu werden – das ist doch genau das, was wir brauchen.“

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