Der Krieg der NATO gegen Jugoslawien hat auch Rußlands Generalität vor prinzipiell neue Herausforderungen gestellt. Insbesondere jene, die in der Vergangenheit immer wieder gefordert haben, die russische Föderation möge sich endlich ihrer begrenzten Möglichkeiten bewußt werden und ausgehend davon eine eigenständige Überlebensstrategie jenseits tradierter Großmachtansprüche formulieren, sehen sich unter dem Druck der Ereignisse gezwungen, ihren bisherigen Ansatz zu revidieren. So auch Generalmajor Alexander Wladimirow - Vizepräsident des Kollegiums der Militärexperten Rußlands. Noch vor wenigen Wochen plädierte er in der Moskauer Wochenzeitung Wjek für einen nicht-konfrontativen Umgang mit der NATO. Mit Beginn der NATO-Aggression veröffentlichte er im gleichen Blatt am 26. März eine »objektiv professionelle Wertung«, die nicht sonderlich versöhnlich klingt, vor allem aber zu diesem Zeitpunkt Prophezeiungen enthielt, die inzwischen eingetreten sind. Wir veröffentlichen Auszüge des Artikels.
Die NATO ist heute ein militär-politisches »Monster«, dessen Möglichkeiten die der nationalen Verteidigung Jugoslawiens um ein Vielfaches übertreffen. Der Pakt wird selektive Raketenschläge austeilen und damit eine beschränkte Landeoperation vorbereiten, die praktisch auf eine Okkupation von Teilen eines Mitgliedsstaates der UNO hinausläuft. Dabei besteht das allgemeine Ziel dieser Handlungen in einer Beseitigung des Milosevic´-Regimes, das heißt, einer Ersetzung der Person des jugoslawischen Präsidenten durch eine »geeignete« Figur, die um den Preis des nationalen Verrats (anders kann dies nicht genannt werden) »Ruhe auf dem Balkan« garantiert. In der Konsequenz dessen wollen die Kämpfer der UCK - gestützt auf die Bajonette der NATO - um jeden Preis das Recht auf die Beherrschung des Kosovo dauerhaft festschreiben.
Jugoslawien, das sich so einer Zerstückelung durch die NATO ausgesetzt sieht, kämpft - da Rußland schwach ist und keine relevante Hilfe leisten kann - allein für seine Souveränität, territoriale Integrität und nationale Unabhängigkeit.
Die NATO ist offenbar davon überzeugt, daß niemand ihrer militärischen Macht widerstehen kann und alles andere als zweitrangig zu betrachten ist. Nach Auffassung des Brüsseler Hauptquartiers wird eine massive Machtdemonstration ausreichen, um den Widerstandswillen Milosevic´s und des jugoslawischen Volkes zu brechen.
Die jugoslawische Armee steht damit im Krieg, der sich nicht auf die Erwiderung von Luftschlägen und nicht auf bestimmte Manöver beschränken wird, mit denen man demonstriert, bis zum bitteren Ende kämpfen zu wollen - sie steht in einem Krieg im direkten Sinne des Wortes. Das heißt, diese Armee ist mobilisiert und motiviert, operiert im Feld, ist bereit zu kämpfen, und - was am wichtigsten ist - hat bereits entlang der jugoslawisch-mazedonischen Grenze in militärischer Ordnung Kontakt mit den NATO-Truppen aufgenommen. Die Signale für den Beginn des Krieges sind für diese Armee nicht die Befehle ihres Oberkommandos, es sind die NATO-Raketenschläge gegen das Territorium Jugoslawiens. Sie wird damit bereit sein, gegen die Kosovo-Albaner der UCK Krieg zu führen und dabei deren Methoden anzuwenden. Zweifelsohne wird dies ein Krieg bis zur vollständigen Vertreibung aller Albaner auf das Territorium Albaniens noch in der ersten Kriegswoche sein. Mit dem Beginn der NATO-Luftschläge dürfte man den Kosovo-Albanern mitteilen, daß sie sich in einer bestimmten Zeit zu sammeln haben. Dann wird man ihnen einen Weg zeigen, auf dem sie ungehindert nach Albanien gelangen können. Und danach werden die Grenzen geschlossen.
Ich glaube nicht, daß Albanien darüber froh und bereit sein wird, Zehntausende Flüchtlinge aufzunehmen. Ob die NATO oder Europa dazu bereit sein werden, ist unklar. Um eine solche Entwicklung zu verhindern, wird die NATO gezwungen sein, Bodentruppen einzusetzen, also das Kosovo zu okkupieren. Sollte sie sich trotz aller Risiken dazu ent schließen, wieviel Jahrzehnte wird sie danach gezwungen sein, dort ihr »begrenztes Kontingent« zu unterhalten? Dabei wäre auch zu berücksichtigen: Mit dem Krisengebiet handelt es sich um keine Wüste, sondern eine Gebirgsregion, in der Soldaten auf eigenem Territorium für Freiheit und Unabhängigkeit des Vaterlandes kämpfen und wo es zumindest schwer sein dürfte, eine Art »fünfte Kolonne« zu installieren. Natürlich kann man die militärische Infrastruktur eines Landes zerstören. Die jugoslawische Armee zu zerstören, ist jedoch unmöglich, da sie die Orte ihrer ständigen Dislozierung längst verlassen hat, und jeder Truppenteil seinen Manöverraum genau kennt. Außerdem können sich die Streitkräfte aufgrund ihres Wissens um die Startzeiten der NATO-Flugzeuge und die Einschlagzeiten der Marschflugkörper den Luftschlägen der Allianz entziehen, da die vorhandene Raketenabwehr und Luftaufklärung in der Lage sind, den Anflug feindlicher Objekte genau zu orten.
Darüber hinaus verfolgt Jugoslawiens Armee die Taktik des »organisierten Chaos« - obwohl in ständiger Bewegung, handelt sie zu jedem beliebigen Zeitpunkt als Ganzes, sowohl bei der Führung eigener als auch der Abwehr fremder Schläge. Der Generalstab wird sich hüten, eine eigene Frontlinie aufzubauen, da dafür Kräfte und Mittel nicht reichen. Er kann nur der Taktik des Partisanenkrieges vertrauen und zwar in jenen Gebieten, die dafür am besten geeignet sind.
Obwohl die NATO internationale Militärhilfe für Jugoslawien weitgehend ausschließt, wird es diese Hilfe dennoch geben. Allerdings wird sie sich nicht in einer bestimmten Anzahl plötzlich auftauchender Panzer, Waffen oder Raketenabwehrmittel manifestieren. Was dabei die Rolle Rußlands angeht, so hat seine ständige Verwicklung in die Konflikte auf dem Balkan eher negative als positive Folgen. Rußland ist mitnichten Konfliktpartei, wird aber aufgrund der Erwartung seiner Bevölkerung, die - nachdem das Land seinen Großmacht-Status verloren hat - mit den Serben sympathisiert, reagieren müssen, um sein »Gesicht« zu wahren. Man wird so beispielsweise den Appell Jugoslawiens an den Sicherheitsrat und den Internationalen Gerichtshof hinsichtlich der NATO-Aggression unterstützen. Schließlich kann sich die russische Regierung direkt in den Konflikt einmischen, und zwar sowohl auf der Seite Jugoslawiens (zum Beispiel durch spezielle Waffenlieferungen, hauptsächlich moderne Raketenabwehrmittel) als auch mit dem Ziel einer Entflechtung beider Seiten durch eine diplomatische Initiative mit entsprechendem UN-Mandat ...
Übersetzung aus dem Wjek (Moskau) vom 26. März 1999 Katharina Stephan
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