Body Count

An der Heimatfront Enttäuschte und verzweifelte Angehörige von Militärs in den USA

Es ist ein Morgenritual geworden. Ich wache auf, schalte das Radio an und höre den neuesten Bericht aus dem Irak. Und wieder ist sie da, die Meldung, die man so oder ähnlich immer wieder hört: Zwei US-Soldaten und acht Iraker in Samara, drei US-Soldaten und sechs Iraker in Falludscha getötet. Danach schaue ich in die Zeitung und suche nach den Namen. Ich habe zwar selbst keine Angehörigen im Irak, aber während ich blättere, bete ich, dass die Toten von heute nicht die Verwandten meiner Freunde sind. Auch wenn mir die Namen nichts sagen, ist mir doch klar, dass die Todesmeldungen des Morgens wieder ein schreckliches Entsetzen sind für irgendeine Familie, auch wenn ich sie nicht kenne. "Es ist wie russisches Roulette", sagte einer meiner Freunde, dessen Sohn im Irak stationiert ist. "Jeden Tag fragen wir uns, ob unser Glück anhalten wird, oder ob dies der Tag ist, der uns trifft."

Mehr als 350 Amerikaner haben ihr Leben verloren, seitdem Präsident Bush am 1. Mai 2003 das Ende der Kampfhandlungen verkündet hat. Obwohl die Regierung behauptet, dass mit der Gefangennahme von Saddam die Anhänger der Baath-Partei effektiv gejagt werden können, gehen die Angriffe gegen das US-Militär weiter, jeden Tag. Insgesamt sind im vergangenen Jahr 513 Angehörige der US-Streitkräfte getötet worden. Das war das schlimmste Jahr seit 1972, als 640 Soldaten in Vietnam zu Tode kamen. Aber ich fürchte, dass das amerikanische Volk soweit manipuliert worden ist, dass es die täglichen Meldungen akzeptiert, wie den Wetterbericht oder die Sportnachrichten. Über die Ankunft flaggenumhüllter Särge auf dem Dover-Luftwaffenstützpunkt berichten die Medien nicht, und Präsident Bush hat bisher kein einziges Begräbnis besucht. Angesichts der langen Liste der Getöteten sollten wir aber auch nicht die Verwundeten vergessen. Bis zum Ende des vergangenen Jahres sind mehr als 8.000 US-Soldaten aus dem Irak evakuiert worden. Viele von ihnen werden in Deutschland, im US-Armeekrankenhaus von Landstuhl, behandelt. Auch dort sind sie, wenn sie nachts ankommen, von den Medien abgeschirmt.

Während die Bush-Regierung für den Übergang zu irakischer Selbstbestimmung mit dem 1. Juli 2004 ein festes Datum gesetzt hat, beabsichtigt sie gleichzeitig offenbar, die US-Truppen auf Jahre im Land zu belassen. Besonders nachdem Saddam Hussein gefangen genommen worden ist, stellen die Familien der US-Soldaten diese Logik in Frage. Der Job sei getan, sagen sie, und die Iraker beziehungsweise die Vereinten Nationen sollten nun die Herrschaft übernehmen.

Einige Militärangehörige, die so denken, haben mich kürzlich auf einer Reise in den Irak begleitet. Anabelle Valencia war dabei, als wir auf der gefährlichen Straße nach Tikrit fuhren, Saddams Geburtsstadt, in der ihre 24-jährige Tochter Giselle stationiert ist. Vorher hatte Giselle in Deutschland ihren Dienst getan und ihre Mutter drei Jahre nicht gesehen. Als sie sich unter Tränen, aber glücklich wiedersahen, hörte Anabelle, wie ihre Tochter, die Gefangene in Konvois von Tikrit nach Bagdad bringt, nur knapp dem Tod entging, als neben ihrem LKW Minen in die Luft gingen. Auch Mike Lopercio hatte ein glückliches Wiedersehen mit seinem Sohn Anthony, der in Falludscha stationiert ist, einer anderen Hochburg des Widerstands gegen die US-Armee. Als Mike die endlosen Konvois und Patrouillen sah, die durch irakische Städte und Dörfer fahren, ist auch ihm klargeworden, dass die Präsenz der US-Truppen mehr und mehr den Widerwillen und den Widerstand fördert. Je länger sie bleiben, desto schlechter wird es. Sein Sohn sagte ihm: "Dad, sie hassen uns hier. Sie betrachten uns als Besatzer und wollen, dass wir nach Hause gehen." Die schwierigste Reise von allen hatte Fernando Suarez. Er fuhr zu der einsamen Diwaniya-Wüste, um seinem Sohn Jesus die letzte Ehre zu erweisen. Getötet wurde er am 27. März 2003, als er auf eine Landmine aus US-Produktion trat.

Medea Benjamin ist Gründungsdirektorin der Menschenrechtsgruppe Global Exchange in San Francisco.


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