Kino Im Horrorfilm „Hatching“ zerstört ein mordendes Vogelwesen im Auftrag eines Mädchens ein finnisches Vorstadtidyll. Hanna Bergholm interessiert sich für ihr Trauma auf vielen Ebenen
Es ist eine schauerliche Kreatur, die im Zentrum von Hatching steht. Ein mageres Vogelwesen kommt da aus einem Ei von ungeheurer Größe geschlüpft. Schwarz verfärbte Klauen durchbrechen die schleimige Membran, richtige Flügel hat es ebenso wenig wie echtes Gefieder. Der beinah nackte Kopf samt einem mit krummen Zähnen besetzten Schnabel erinnert zuerst an einen Totenschädel.
Trotz seiner Monstrosität hat „Alli“, wie die zwölfjährige Tinja (Siiri Solalinna) das mysteriöse Wesen nennt, am Ende mehr mit „E.T.“ aus Steven Spielbergs Klassiker gemein als etwa mit den ungeheuerlichen, in anonymen Schwärmen attackierenden Vögeln eines Alfred Hitchcock. So unwahrscheinlich das für einen derart verstöre
erart verstörenden Horrorfilm wie Hatching auch klingen mag. Denn im Grunde kreist das Drehbuch von Ilja Rautsi um zwei gängige Horrorformeln: Die wahren Monster sind, wie so oft, jene in Menschengestalt. Und: Hinter den glänzendsten Fassaden verbergen sich meist die tiefsten Abgründe.Bevor von einem schmutzig-stinkenden Vogelwesen überhaupt die Rede sein kann, beginnt der Film der finnischen Regisseurin Hanna Bergholm mit der Idylle, die Tinjas Elternhaus zu sein scheint. Die Eröffnungssequenz lässt zunächst an ein Verkaufsvideo für eine elegante Immobilie denken: Nach einem Drohnenflug über die malerischen Wälder vor einer finnischen Kleinstadt wandert die Kamera durch lichtdurchflutete Räume, sämtliche Möbel und Accessoires sind in Pastellfarben gehalten. Persönliche Gegenstände sucht man genauso vergebens wie jede noch so kleine Unordnung.Kurz darauf ist Tinja mit adrett gekämmtem blondem Haar zu sehen, wie sie im Wohnzimmer diszipliniert ihre Turnübungen macht. Als plötzlich eine schmale Frauenhand im Bild auftaucht und sich auf sie zubewegt, hat das zunächst etwas unerklärlich Bedrohliches. Zu Recht, wie sich bald herausstellen wird. Zunächst aber löst die Spannung sich auf, als klar wird, dass es die Hand der Mutter (Sophia Heikkila) ist, die mit dem Smartphone filmend durch das Zuhause streift.Drill zur PerfektionBezeichnenderweise wird die Mutter die gesamte Spielzeit über ohne Namen bleiben. Ihr Ziel ist es, über den Blog Lovely Everyday Life den Anschein vom perfekten Familienglück zu erwecken. Und während sich, frei mit Leo Tolstoi gesprochen, Unglück in mannigfaltigen Formen manifestiert, gleicht das eine Glück stets dem anderen. Individualität, wie sie durch einen Namen zum Ausdruck gebracht werden könnte, passt hier nicht ins Bild.Eingebetteter MedieninhaltDie Kritik, zu der Hatching ansetzt, ist nicht neu: eine Vorstadtidylle entpuppt sich schnell als Vorstadthölle. Hier besteht sie aus einer kontrollsüchtigen Matriarchin, die ihre Tochter zu Höchstleistungen anspornt und sie beim Turnen so lange zum Trainieren drängt, bis wortwörtlich Blut fließt. Der jüngere Sohn Matias (Oiva Ollila) scheint die Mutter schon lange enttäuscht zu haben und wird mit Nichtbeachtung gestraft. Der Ehemann (Jani Volanen) ist wiederum nur Zierwerk.Wie die Wiederholung von Altbekanntem aber wirkt Hatching zu keinem Zeitpunkt. Einerseits, weil besagte Kritik an der kleinbürgerlichen Scheinheiligkeit um einen zeitgemäßen Aspekt, die Rolle der sozialen Medien, ergänzt wird. Andererseits, weil die Art und Weise, wie die vermeintliche Idylle konterkariert wird, überaus originell und vielsinnig ist.Wenn während eines weiteren Inszenierungsmarathons für den Familienblog plötzlich eine Krähe ins traute Heim fliegt, wird der erste Riss in dieser Fabergé-Ei-Existenz sichtbar: Als die Mutter das Tier zu fassen bekommt, bricht sie ihm mitleidlos das Genick. Tinja wird die Krähe, die auf wundersame Weise nicht tot ist, später im Wald vorfinden, mit einem Stein erschlagen, und das daneben liegende Ei mit nach Hause nehmen.Mit Tränen genährtDas eingangs beschriebene Vogelwesen aber schlüpft erst, als sich Tinja nach einer weiteren Verwundung durch ihre Mutter auf das Ei legt und ihre Tränen in der Schale versickern. Mannigfaltige Interpretationsmöglichkeiten tun sich hier auf, über die nachzudenken einen der großen Reize an Hatching ausmacht. Eine davon könnte lauten, dass Tinja durch ihren Schmerz etwas „ausbrütet“, so wie man auch eine Krankheit ausbrütet. Eine Depression etwa, oder eine Essstörung.Zu dieser Lesart passt, dass das Vogelwesen offenbar von Tinjas Ängsten und Sorgen angetrieben wird. So versucht es alles aus dem Weg zu räumen, was zwischen Tinja und ihrem Glück steht. Das kann den nachts bellenden Nachbarshund ebenso treffen wie die schärfste Konkurrentin im Turnwettbewerb.Zwischen Tinja und Alli, beide gewissermaßen mutterlos, entwickelt sich eine liebevolle Beziehung, die allerdings selbstzerstörerische Tendenzen annimmt. Wie für ein Vogelbaby üblich, ernährt Alli sich von vorverdauter Nahrung, was dazu führt, dass sich die von ihrer Mutter bereits auf eine strenge Diät gesetzte Jugendliche regelmäßig zu übergeben beginnt.Visuell geht Hatching in Szenen wie diesen an die Schmerzgrenze. Das Verstörende am gezeigten „Body Horror“ reicht aber tiefer, so wirkungsvoll bebildert der Film das Ausmaß des Leids, das ein liebloses Elternhaus in einem Kind auslösen kann. Letztlich scheint es Tinja, die selbst überaus empathisch ist, sich aber durch den eng getakteten Lebensstil, den ihre Mutter ihr aufzwingt, nahezu in völliger Isolation befindet, vor allem darum zu gehen, etwas ganz und gar für sich zu haben. Und sei es eben ein seelisches Trauma. Am Ende stellt Bergholm mit ihrem überaus gelungenen Debüt vor allem unter Beweis, wie feinfühlig selbst Horror sein kann.Placeholder infobox-1
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