Sie haben sofort nach den terroristischen Anschlägen in New York und Washington dem Volk und der Regierung der USA die uneingeschränkte Solidarität der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Bürgerinnen und Bürger ausgesprochen. Eine staatsmännische Handlung, die angesichts der Verdienste der USA, ihres Anteils an der Befreiung unseres Landes durch die Anti-Hitler-Koalition und ihres besonderen Engagements für das bedrohte Westberlin in Gestalt der Luftbrücke sowie die persönlichen Bekenntnisse mehrerer US-Präsidenten zur heutigen Bundeshauptstadt nicht nur gut begründet, sondern auch moralisch geboten war.
Dass das Wort "uneingeschränkt" in diesem hochdramatischen Zusammenhang allerdings der Interpre
ings der Interpretation bedarf, haben Sie selbst inzwischen durch zahlreiche Äußerungen klargestellt. Einschränkungen ergeben sich aus Bestimmungen des Grundgesetzes, die das Handeln der Regierung auch im Verteidigungsfall an das Ziel der Friedensstaatlichkeit, den Dienst am Frieden der Welt, die Unantastbarkeit der Menschenwürde und die Unveräußerlichkeit der Menschenrechte binden.Es sind diese Verfassungsnormen, die die Bundesregierung und ihr Handeln in der Völkergemeinschaft auch auf Prinzipien und Regeln des internationalen Rechts ebenso verpflichten wie auf die Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit der im Dienst der zugesagten Solidarität anzuwendenden Mittel - besonders wenn diese militärischer Natur sein sollten, wie sie jetzt im Kampf gegen den Terrorismus eingesetzt werden.Ich gestehe ganz offen, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, dass ich als jemand, der in jener bekannten Februarnacht 1945 die Bombardierung der nahezu vollkommen wehrlosen Bevölkerung von Dresden miterlebt hat, für immer davon überzeugt wurde, dass es keinen denkbaren Legitimationsgrund für diese Art von Waffengebrauch geben kann. Vielmehr signalisiert er, dass und wie Kriegshandeln zwischen bewaffneten Gegnern umgeschlagen ist in Terrorismus gegen Wehrlose. Können Sie mir sagen, inwiefern das heute auf einmal anders sein und der immer mehr zivile Opfer fordernde Bombenterrorismus in Afghanistan ein sinnvolles, wirksames und verhältnismäßiges Mittel zur Bekämpfung des Terrorismus sein soll?In der gleichen Lage befinde ich mich als ehemaliger DDR-Bürger, der sich nur zu gut erinnern kann, welchen Diffamierungen alle diejenigen ausgesetzt waren, die als Aktivisten der Friedensbewegung den Afghanistan-Krieg der Sowjetunion kritisierten. Gerade weil der heutige Afghanistan-Krieg von einem demokratischen Land und nicht von einer Diktatur wie der sowjetischen geführt wird, hat es für Angehörige meiner Generation etwas geradezu Verstörendes, wenn dieser Krieg mit genau den gleichen nichtswürdigen Argumenten verteidigt wird, mit denen die SED die damalige Friedensbewegung mundtot zu machen versuchte.Wieso ist es etwas Anderes und Besseres, die Kritiker der heutigen Kriegshandlungen gegen Afghanistan als Fortsetzer eines altkommunistischen Anti-Amerikanismus oder gar als Sympathisanten terroristischer Verbrechen zu diffamieren, weil sie eine Strategie kritisieren, von der noch niemand zu zeigen vermocht hat, inwiefern sie ein wirksames Mittel zur Bekämpfung des Terrorismus sein kann?Muss es nicht eher als ein Sieg des Terrorismus angesehen werden, wenn Journalisten wegen kritischer Äußerungen zensiert oder - wie in den USA geschehen - aus ihren Stellungen entfernt werden? Ist es eine wirksame Kampfmaßnahme gegen den Terrorismus, Lehrer wegen pazifistischer Äußerungen vom Dienst zu suspendieren, Kinder und Jugendliche mit schlechten Noten zu bestrafen, weil sie an Antikriegsdemonstrationen teilgenommen haben? Ist es mit der Würde und Unabhängigkeit des Deutschen Bundestages vereinbar, wenn eine Fraktion von Informationsgesprächen mit Ihnen ausgeschlossen wird, weil sie eine andere Position als die der Regierung vertritt? Ich könnte diese Liste von Einschränkungen der politischen Meinungsfreiheit durch weitere, in der Presse dokumentierte Übergriffe von Behörden noch lange fortsetzen.Aber leider kann ich mich der Überzeugung nicht verschließen, dass derartiges Fehlverhalten immer noch leichter zu korrigieren ist, als die gesetzlichen Eingriffe in die Rechte der informationellen Selbstbestimmung und die Unantastbarkeit der Privatsphäre, die Ihre Regierung plant. Wiederum fehlt mir jedes Verständnis dafür, dass die erkennungsdienstliche Behandlung einer gesamten, unter Terrorismusverdacht gestellten Bevölkerung eine effektive Kampfmaßnahme gegen Terrorismus sein soll, wo doch gerade die Attentäter vom 11. 9. gezeigt haben, wie man alle derartigen Kontrollmaßnahmen umgehen kann!Und was ich als ehemaliger DDR-Bürger als besonders schlimm empfinde: Ich habe es erlebt, wie ein Staat, der Bespitzelung und Denunziation zur Normalität seines Handelns werden lässt, seine Autorität so weit untergräbt, dass er sie am Ende völlig verliert und an diesem Verlust zusammenbricht. Wer kann derlei für eine siegverheißende Art des Kampfes gegen den Terrorismus halten?Triumphiert dieser nicht vielmehr, wenn alle Prinzipien der Demokratie in ihr Gegenteil verkehrt und die in ihr zu fordernde Transparenz staatlichen Handelns und gesellschaftlicher Praxis dem Bürger auferlegt und seine physische, moralische und soziale Privatsphäre jeder Form der Ausspähung geöffnet werden soll ?Gerade potentielle Terroristen werden am ehesten bereit sein, derartige Ausspähung hinzunehmen. Liegt ihnen doch alles daran, vor der terroristischen Tat ihre Normalität zu beweisen, ehe sie in ihrer Tat mit sich selbst und ihren Opfern nicht nur Privatsphären, sondern auch deren Träger auslöschen.Wenn dem Terrorismus und seiner Philosophie der Selbstzerstörung wirksam begegnet werden soll, müssen ganz andere Wege beschritten werden. Die Akte vom 11. 9. waren ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit von globalem Ausmaß. Auf derartige Verbrechen kann nicht mit Krieg, sondern muss mit Anklage, Prozess und Urteil geantwortet werden. Dass zur Ergreifung der Täter unter Umständen Gewalt gebraucht werden muss, wird kein vernünftiger Mensch bestreiten. Ebenso wenig aber wird man bestreiten können, dass diese Art des Gewaltgebrauchs anders aussehen muss als jene Bombardements, von denen bisher nicht klar geworden ist, ob sie je einen einzigen Terroristen getroffen haben oder seine Festnahme in greifbare Nähe haben rücken lassen.Niemand kann den USA das von der UN-Charta garantierte Selbstverteidigungsrecht bestreiten. Aber ist sich nicht alle Welt einig, dass es sich bei den Verbrechen vom 11. 9. um eine Attacke auf die Sicherheit und die öffentliche Ordnung im globalen Ausmaß handelt? Also kann die auf sie reagierende Allianz gegen den Terror auch nicht eine Angelegenheit der US-Außenpolitik, sondern nur eine der Staatengemeinschaft - also der UNO - sein. Nach einer neuerlichen Generaldebatte der Vollversammlung sollte der Sicherheitsrat eine generelle und uneingeschränkte Ächtung nicht nur aller terroristischen Handlungen, sondern vor allem aller Terroristen als Schwerkrimineller beschließen, samt allen aus dieser Ächtung folgenden Konsequenzen.Die Bundesregierung sollte eine Dringlichkeitsinitiative ergreifen zur Beschleunigung der Ratifizierung des Statuts des Internationalen Gerichtshofes. Dabei sollten auch Beratungen darüber eingeleitet werden, wie ein Verfahren aussehen soll, das gegen ein Verbrechen geführt wird, dessen Haupttäter gar nicht mehr am Leben sind, und wie während der Zeit verfahren werden soll, in der ein Internationaler Gerichtshof wegen Unvollständigkeit der Statutenratifikation noch nicht tätig werden kann. Die bereits begonnenen Sicherheitsberatungen der EU auf Ratsebene sollten durch Initiativen von Kommission und Parlament ergänzt werden, wie die in der EU bereits geltenden Rechtsnormen - Verbot der Todesstrafe, Recht auf richterliches Gehör, Rückwirkungsverbot - auch in der globalen Allianz gegen den Terror in Kraft gesetzt werden können.Sie selbst, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, bitte ich inständig, sich die Forderung des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Herrn Kofi Annan, wie zahlreicher internationaler Hilfsorganisationen zu eigen zu machen, die Bombardements sofort zu beenden, damit der betroffenen Zivilbevölkerung, vor allem den Flüchtlingen, die lebensnotwendige Hilfe gebracht werden kann.Mit freundlichem Gruß Dr. Wolfgang Ullmann
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