Bonner Kölsch

Sittengemälde Brigitte Glaser öffnet den Zeittunnel in das Machtzentrum der alten Bundesrepublik
Ausgabe 26/2019
Das stille Leiden des Willy Brandt
Das stille Leiden des Willy Brandt

Foto: Imago/Sven Simon

Der 19. November 1972 markiert den Zenit der deutschen Sozialdemokratie. Nie zuvor hat sie und nie wieder danach wird sie ein solch starkes Ergebnis einfahren wie am Abend dieser Bundestagswahl. Über der kleinen Bundeshauptstadt Bonn am Rhein scheint sich der übliche Herbstnebel zu lichten, und es riecht nach Reform.

Doch dem Mann, der dies möglich gemacht hat, ist im Wahlkampf die Stimme abhandengekommen. Am nächsten Tag schon muss sich Willy Brandt in eine Spezialklinik begeben, während die Genossen Wehner, Ehmke und Schmidt bei den Koalitionsverhandlungen mit der FDP die Strippen ziehen und um Positionen ringen. Auch die junge Logopädin Sonja Engel in Brigitte Glasers Roman Rheinblick ist von Brandt fasziniert. Er wirkt mit seiner ruhigen, sachlichen Art auf sie so viel moderner als die anderen Männer seiner Generation. Bald schon wird sie ihn als Patienten kennenlernen, doch der sensible Hoffnungsträger scheint nicht nur seine Stimme verloren zu haben, sondern auch seinen Glauben an sich selbst und den politischen Wandel.

Währenddessen regiert Wirtin Hilde Kessel im fiktiven „Rheinblick“gerade mal einen Steinwurf von den Abgeordnetenbüros des „Langen Eugen“ entfernt. Dort kehren die Herren Politiker aller Fraktionen gerne mittags und abends ein, um sich wie auf exterritorialem Gebiet bei einem süffigen Kölsch auszutauschen. Wo die gerade einmal 30 weiblichen Abgeordneten des 7. Deutschen Bundestages ihre Freizeit verbringen, erfahren wir nicht. Als die Rede auf Annemarie Renger, die erste Präsidentin im Bundestag, kommt, sinniert der Tresen, ob sie sich trauen wird, im Hosenanzug zu erscheinen. Wird sie nicht. „Der ,Rheinblick‘ ist wie die Schweiz“, sagt Hilde und pocht auf ihre Neutralität. Doch in Wirklichkeit ist sie längst zwischen die Männerbünde geraten, die hier geschmiedet werden und zerbrechen. Während die Mittvierzigerin ihre Grenze zur Welt der Männer sorgfältig absteckt, versucht die 21-jährige Lotti diese Grenzen niederzureißen. Widerwillig begleitet sie den jungen Wolfgang Schäuble auf seinen ersten Schritten durch die Bundeshauptstadt, interessiert sich jedoch weniger für den spröden Wahlkreisabgeordneten als für das „Heilsarmeemädchen“, das tot und vergewaltigt neben dem Grab von Robert Schuhmann aufgefunden wurde. Handelte es sich um eines der Heimkinder, über deren Schicksal man zu der Zeit ebenso wenig spricht wie über die Prostituierten, zu denen sich viele Politiker gerne diskret mit dem Taxi chauffieren lassen?

Still leidet Willy

Brigitte Glaser ist vor allem als Krimiautorin bekannt geworden, auch Rheinblick kann man als solchen lesen, aber eben auch als eine Art Sittengemälde der alten Bundesrepublik zu einem Zeitpunkt, als deren festes Fundament aus Männerbünden, rheinischem Katholizismus und Repression die ersten Risse bekommt. Es lohnt sich, einmal die großen Bonn-Romane wie Das Treibhaus von Wolfgang Koeppen aus dem Jahr 1953 oder Bölls Ansichten eines Clowns von 1963 danebenzulegen. Während die tragischen Helden Felix Keetenheuve und Hans Schnier noch an der Enge und Rigidität der Bonner Welt zerbrechen, sieht Brigitte Glaser für ihre Heldinnen ein, zwei Jahrzehnte später Lichtstreifen am Horizont über dem Rhein. Ihre Erzähltechnik lebt von Perspektivenwechseln und Schnitten. Zu Beginn kommen manche Zitate etwas belehrend daher, weil Glaser ihrer Leserschaft die vielen Namen und komplexen politischen Hintergründe erst einmal näherbringen muss. Dann jedoch nimmt die Geschichte an Fahrt auf.

Zu den Vorzügen des Romans gehört, dass Glaser ihr Bonn kennt, egal ob es um die Revoluzzerkneipe Schuhmann-Klause geht oder um die Telefonzelle an der Ecke Breitestraße, die für die umliegenden Wohngemeinschaften der Draht zur Welt war. Und auch das stille Leiden des Willy Brandt ist belegt, als ob er in der Stunde seines größten Triumphes den Kanzlersturz anderthalb Jahre später bereits geahnt hätte. „Times they are a changing“, summt jemand im Buch. Doch das damalige Narrativ von einer besseren Zukunft ist der SPD abhandengekommen.

Info

Rheinblick Brigitte Glaser List 2019, 432 S., 20 €

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