Born in the GDR

Einheit Nach einem so tiefgreifenden Umbruch wie dem Mauerfall leiden viele Ostdeutsche an psychischen Langzeitfolgen, sagen Psychologen. Immer mehr begeben sich nun in Therapie
Born in the GDR

Illustration: Apfel Zet für Der Freitag

Erst kürzlich wurde Joachim Gauck in einem Interview mal wieder die Frage aller Fragen gestellt: „Fühlen Sie sich eigentlich als Ossi?“, wollten die Kollegen von ihm wissen und schoben gleich noch eine Alternative hinterher: „Oder eher als Norddeutscher?“ Als wäre die eigene Identität eine frei zu treffende Entscheidung.

Gauck wird diese Frage in den letzten 23 Jahren oft gehört haben. Sie ist ein Klassiker, genau wie die, was man am Abend des Mauerfalls gemacht habe. Ferngesehen? In der Sauna gewesen? Vielen Ostdeutschen werden diese Fragen bekannt vorkommen. Nicht wenige werden sie zwar nicht in den umständlichen Worten Joachim Gaucks, aber letztlich auch abwehrend und verneinend beantwortet haben: „Im Gemüt bin ich Ostdeutscher, im Kopf nicht … Das heißt, dass ich mit all meinen Überzeugungen westlichen Werten verpflichtet bin. Ich gehöre dem Reich der Freiheit an.“

Ein Ostdeutscher, der kein Ostdeutscher sein will und damit doch nichts anderes als ein Ostdeutscher ist. Daran hat sich die Öffentlichkeit, nicht nur im Fall von Joachim Gauck, gewöhnt. Auch Angela Merkel redet ja nur in Allgemeinplätzen über dieses Thema. Stattdessen hängt sie sich ein Portrait von Konrad Adenauer über ihren Schreibtisch. Das dürfte auf viele wie ein Schutz oder ein Ablenkungsmanöver wirken.

Damit aber nähren beide jene Wunschvorstellung, die sich landauf, landab über die Jahre als eine neue Wirklichkeit etabliert zu haben scheint und die man auf den Satz reduzieren kann: Ost und West, das ist doch kein Thema mehr! Aber wie wahr ist diese Behauptung wirklich?

Viele Psychologen und Psychotherapeuten nämlich widersprechen dieser Darstellung. Da ist Hans-Joachim Maaz, der Hallenser Therapeut und Buchautor des Bestsellers Der Gefühlsstau, der sagt: „Die Sozialisation eines Menschen kann man nicht ablegen wie ein Hemd. Die Unterschiede übertragen sich über Generationen. Die behauptete Angleichung an den Westen mag manche Äußerlichkeit betreffen, nicht aber den psychosozialen Zustand der Menschen.“ Da ist die junge Therapeutin Dorothea Frick aus Berlin-Schöneberg, die erst seit kurzem im östlichen Bezirk Weißensee arbeitet und erstaunt festgestellt hat: „Ich hätte nie gedacht, dass die DDR-Prägungen so lange überdauern.“

Wie bei Migranten

Da ist Jochen-Friedrich Buhrmann, Chefarzt der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Schwerin, der in seiner täglichen Arbeit sieht, dass bei gut fünfzig Prozent seiner Patienten die behandlungsbedürftigen Störungen ihre Wurzeln in den Erfahrungen aus der DDR, der Wende und den Nachwendejahren haben. Da ist der Potsdamer Psychotherapeut Michael Froese, der in den Erzählungen seiner Patienten immer wieder auf eine historische Dimension stößt und überzeugt ist: „Mit ostdeutschen Patienten ist es wie mit Migranten. Es ist gut, wenn man etwas von ihrer Kultur und Geschichte versteht.“ Und da sind die Wissenschaftler aus Leipzig und Dresden, die im Rahmen der sächsischen Längsschnittstudie seit dem Jahr 1987 immer wieder hunderte Teilnehmer befragen, die 1973 noch in den DDR-Bezirken Leipzig, Dresden und Karl-Marx-Stadt geboren wurden. Sie kommen darin zu dem Schluss, dass sich die Befragten umso ostdeutscher fühlen, je länger die DDR vorbei ist.

Und da sind die Patienten mit den unterschiedlichsten DDR- und Nachwendebiografien, aus allen Altersklassen und sozialen Schichten, die sich mit Symptomen wie Kopfschmerzen, Magenschmerzen, Bluthochdruck, Kreislaufbeschwerden, Gelenkschmerzen und in den vergangenen Jahren auch immer mehr mit Essstörungen oder mit psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Ängsten und Panikattacken schließlich für eine Therapie entscheiden. Und dort „froh und dankbar sind, offen über ihre Probleme zu sprechen, ohne beschämt zu sein“, wie Hans-Joachim Maaz erzählt.

Im Grundgesetz heißt es, die Deutschen hätten „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet“. In den Praxen und Studierstuben des Landes aber sieht es anders aus. Denn hier untersucht man, welche persönlichen, historischen, politischen und kulturellen Umstände und Ereignisse auslösende Bedingungen für psychische Störungen geworden sind, wie Michael Froese und sein Kollege Christoph Seidler in dem Buch Traumatisierungen in (Ost)-Deutschland schreiben. Und erlebt, dass die Patienten mit ihrer Identität und DDR-Herkunft ringen und Antworten auf die Frage suchen, warum, verdammt nochmal, Dinge, die mehr als 20 Jahre zurückliegen, noch immer Auswirkungen auf ihr heutiges Leben haben. Warum diese Menschen am Arbeitsplatz und in ihren Beziehungen nicht so „funktionieren“, wie sie wollen und sollen.

Dabei gehen die Psychologen heute davon aus, dass überwältigende seelische Erlebnisse nicht nur im Fall von Extremtraumatisierungen über Generationen weitergegeben werden. Auch politisch-kulturelle Umbruchsituationen können, sofern sie die Identität der Menschen in so ausgeprägter Weise wie nach dem Mauerfall oder auch dem Kriegsende im Jahr 1945 treffen, zu ähnlichen Weitergaben von Affekten und damit zu nachhaltigen psychischen Reaktionen führen. Diese Verletzungen müssen nicht unbedingt traumatischer Natur sein, nicht alle Menschen müssen darunter leiden, schreiben Froese und Seidler weiter. Aus ihrer Arbeit aber wissen sie, dass anhaltende posttraumatische Belastungsstörungen bei gut einem Drittel ihrer Patienten dann auftreten, wenn „zentrale Werte, politische, philosophische, religiöse Weltanschauungen und Überzeugungen, Ich-Idealbildungen, praktische Lebensformen, Rituale, Identitäten“ nicht länger in bekannter Weise Bestand haben und neue Lebensformen erst erlernt werden müssen.

Um von solchen Störungen betroffen zu sein, musste man in der DDR nicht unter Repression und Verfolgung gelitten haben. Man musste auch nicht in herausgehobener oder staatsnaher Position gearbeitet haben. Man musste sich nicht einmal mit dem System identifiziert haben. Unter vielen DDR-Bürgern war eine gewisse Resignation gegenüber den realen Zuständen ja gelebte Praxis. „Aber natürlich schützt bewusste Ablehnung“, wie der Berliner Psychotherapeut Frank-Andreas Horzetzky im selben Buch schreibt, „nicht vor den Auswirkungen unbewusster Identifikation“.

Vor zehn Jahren kam Jochen-Friedrich Buhrmann aus Hamburg nach Schwerin, um dort die Leitung der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie zu übernehmen. Er habe damals, erinnert er sich, eine Einrichtung übernommen, in der noch nach den gleichen therapeutischen Konzepten wie in der DDR gearbeitet worden sei. Bevor er sich überhaupt mit den Ostspezifika seiner Patienten beschäftigen konnte, krachten im Kollegenkreis erst einmal ganz unterschiedliche Biografien und Sozialisationen aufeinander. Erst nach zwei bis drei Jahren sei ihm wirklich aufgegangen, „wie groß bei vielen Ostdeutschen die Verletzungen sind, die im Zusammenhang mit der friedlichen Revolution und ihren Folgen entstanden sind“.

Kein Tag ohne Wende

Bei vielen, die ein normales Leben führten, habe die Wende einfach zu massiven Brüchen in der Biografie geführt – von denen manche so traumatisch gewesen seien, dass sie noch heute Nachwirkungen hätten. „Da kommen Menschen mit Schmerzsymptomen oder verschiedenen körperlichen Beschwerden, die organisch nicht krank sind. Manche leiden unter depressiven Stimmungen, haben Schlafstörungen, können sich nicht konzentrieren. In den Symptomen, mit denen sie zu uns kommen, unterscheiden sie sich nicht von anderen Patienten. Aber in den Gesprächen wird dann klar, wie sehr ihnen die Umstände der Wiedervereinigung zugesetzt haben“, erzählt Buhrmann. Er denke da etwa an einen Mann, der mit Herz- und Bauchbeschwerden in die Klinik gekommen sei. „Der hat nach der Wende unglaublich viel Kraft investiert, um seinen Betrieb in Schwerin am Leben zu erhalten. Das ist auch erst einmal gelungen – aber ein paar Jahre nach der Wiedervereinigung wurde er gekündigt. Diese Kränkung hat er nicht verarbeitet.“

Wenigstens jeden zweiten seiner psychosomatischen Patienten beschäftige eine DDR- und Wendeproblematik, davon ist Jochen-Friedrich Buhrmann heute überzeugt. Zehntausende Menschen seien allein in Mecklenburg-Vorpommern derart betroffen, dass sie eigentlich in Behandlung gehörten. Kein Tag sei in den letzten Jahren vergangen, an dem die Wende nicht auf irgendeine Weise in der klinischen Arbeit zum Thema geworden sei.

Warum aber werden diese Nachwirkungen von DDR und Wiedervereinigung, unter denen so viele zu leiden scheinen, so wenig thematisiert? Wird darüber nur privat mit Freunden gesprochen? Wieso hat man sich stillschweigend darauf geeinigt, dass die Menschen in Chemnitz und Celle, München und Magdeburg gleich ticken müssen? Und warum haben die Erfahrungen des Umbruchs, „dass man Geschichte machen und dass sie glücken kann“, nicht zu Stolz und Selbstbewusstsein geführt?

Diesen Fragen geht Buhrmann nun beharrlich nach. Seit Jahren veranstaltet er in Schwerin Symposien, auf denen Fachleute aus Ost und West diskutieren. So sollen die Schweriner Bürger informiert und seine Mitarbeiter sensibilisiert werden. Wahrgenommen allerdings werden diese Symposien meist nur von einer kleinen, ohnehin interessierten Öffentlichkeit. Als „Befindlichkeit“ und „Jammerei“ wird der Diskurs von vielen abgetan.

Allein mit der Angst

Dabei sind längst nicht nur jene betroffen, die nach dem Mauerfall mit ihrer Arbeit auch die bisherige Klarheit, die finanzielle Basis und oftmals den bisherigen Sinn ihres Leben verloren hatten. Und das waren nach Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in den Jahren 1990 und 1991 allein rund 2,5 Millionen Menschen. Zu keinem Zeitpunkt in der deutschen Nachkriegsgeschichte verloren so viele Menschen in so kurzer Zeit ihren Arbeitsplatz. Traumatisiert sind auch deren Kinder, also jene Gruppe, die 1989 zwischen 13 und 18 Jahre alt war. Denn schnell ablaufende gesellschaftliche Veränderungen gefährden die adoleszente Identitätsbildung massiv, schreibt Frank-Andreas Horzetzky. Gleichwohl gab es Eltern, die mit einer gefestigten persönlichen Autorität auch damals ihren Kindern Halt bieten und ein Gegenüber für Auseinandersetzungen sein konnten.

Bei Hannah Sommer (Name geändert) aber war das nicht so. Wie stark die Eltern mit ihrer Wendeverunsicherung auch ihre eigene Persönlichkeit beeinflussen würden, ahnte sie damals noch nicht: „Ich war nur erschrocken darüber, dass meine Eltern wie versteinert vor dem Fernseher saßen und auf einmal niemand mehr zu wissen schien, wie es weitergehen sollte.“ Jeden Tag seien neue Hiobsbotschaften gekommen, „wenn wieder jemand aus dem Freundeskreis seinen Job verloren hatte“. Irgendwann traf es auch die Familie selbst: „Meine Mutter hatte an einer Hochschule gearbeitet und kam als Lehrerin an eine Mittelschule. Das war für sie eine schlimme Kränkung. Und mein Vater hat als Lehrer bei verschiedenen freien Trägern gearbeitet und wurde immer wieder arbeitslos.“

Viel schlimmer für das Kind war aber damals: „Die hatten einfach überhaupt keinen Nerv für uns. Aber für uns war ja auch alles neu – keiner wusste, wie das mit den Schulen weitergehen würde und was man danach überhaupt für Möglichkeiten haben würde. Meine Eltern waren gar nicht in der Lage, mich in irgendeiner Weise an die Hand zu nehmen oder mir auch nur einen Rat zu geben.“ Alleingelassen mit ihrer Angst habe sie sich gefühlt, erzählt die heute 35-jährige Frau. „Aber meine Mutter und mein Vater haben sich in dieser neuen Welt noch weniger zurechtgefunden als ich.“

Und da, wo Reden geholfen hätte, um sich zu orientieren, blieb man in der Familie stumm. „Ich habe ziemlich schnell nach der Wiedervereinigung angefangen, mich politisch zu engagieren“, erzählt Sommer. „Ich war wirklich begeistert von Demokratie und Partizipation. Davon wollte daheim aber niemand etwas hören. Meine Eltern sind irgendwie in ihrem Beleidigtsein verharrt.“ Jede Kritik am untergegangenen System sei als Angriff auf die eigene Biographie empfunden und mit den Worten quittiert worden, sie wisse doch überhaupt nicht, wie das Leben damals gewesen sei. Oder ob sie sich denn in der Kindheit unterdrückt und eingesperrt gefühlt habe?

„Als ich dann auch noch damit angefangen habe, mich für die Aufarbeitung des DDR-Unrechts zu interessieren, war das für meine Eltern wie eine Ohrfeige. Ich glaube, sie erleben mich seither im Grunde wie den personifizierten Vorwurf.“ Warum ihr Weg für die Eltern so eine Belastung war, erfuhr sie erst ein Jahrzehnt später. „Mit dem Auftauchen ihrer Akte musste meine Mutter dann zugeben, dass sie für die Stasi gearbeitet hatte. Das hat sie mir in einer Mail in ein paar Sätzen mitgeteilt – aus, Ende. Darüber gesprochen haben wir nie.“

Für sie, die ihre Mutter bewundert habe, sei damals eine Welt zusammengebrochen. Das Gefühl, allein zu sein, wuchs ins Unendliche – ebenso wie die Unmöglichkeit, sich im Leben zurechtzufinden. Sommer fing Ausbildungen an und brach sie wieder ab, verlor sich in Beziehungen, die nicht gut für sie waren. Kniete sich, als sie für sich endlich den passenden Job gefunden hatte, so hinein, dass sie körperlich und seelisch überfordert war. „Ich hatte kein Gefühl dafür, was für mich gut war.“ Erst ein Zusammenbruch machte ihr klar, dass es so nicht weitergehen könne. Inzwischen arbeitet sie mit einem Coach. Gesprächen mit ihren Eltern aber versucht sie, weiterhin aus dem Weg zu gehen.

Kinder in der Elternrolle

Michael Froese kennt Patienten wie Hannah Sommer. Der Potsdamer Psychotherapeut behandelt Dutzende von Menschen, die während der Wendezeit erwachsen wurden. „Sowohl in der frühen als auch in der späten Adoleszenz werden die Eltern als Objekte gebraucht, von denen wir uns abnabeln müssen. Wenn die selbst hilfebedürftig sind, ist es unglaublich schwer, das zu tun, was eigentlich normal wäre: sich zu reiben, zu raufen und sich schließlich abzunabeln. In dieser Phase ist häufig das Gegenteil passiert. Wir sehen heute, dass die Jugendlichen, die zur Wende in der frühen Adoleszenz waren, es schwerer hatten, da sie selbst noch unreifer waren und ihre Eltern und Lehrer mehr gebraucht haben. Sie gerieten mit ihren Separationsbemühungen in konflikthafte Zustände. Manche Jugendliche haben ihren Müttern und Vätern gegenüber eine Elternrolle eingenommen. So etwas behindert das eigene Erwachsenwerden.“

Doch auch wer zu Zeiten des Umbruchs schon erwachsen gewesen sei, habe vor großen Herausforderungen gestanden. „Diejenigen, die schon älter waren, denen fiel es leichter. Sie traten häufig eine Flucht nach vorn an, nahmen nicht selten eine pseudo-progressive Entwicklung und nutzten die neuen Freiheiten, indem sie sich hineinstürzten. Auf jeden Fall war eine gesunde Abnabelung für beide Gruppen ,behindert‘.“

Überforderung ist das Wort, das Eva Werner (Name geändert), ein paar Jahre älter als Hannah Sommer, spontan einfällt, wenn sie an die Wendejahre denkt. Grundsätzlich sei die Wiedervereinigung für sie eine riesige Chance gewesen. „Meine Eltern waren in der DDR nicht besonders angepasst. Deshalb habe ich immer gewusst, dass ich vermutlich nicht auf die Erweiterte Oberschule hätte gehen können. Dass sich 1990 auf einmal die Möglichkeit ergab, doch Abitur zu machen und später zu studieren, habe ich als riesiges Glück empfunden.“ Sie sei damals wild entschlossen gewesen, alle Chancen zu nutzen, „darin haben mich auch meine Eltern immer bestärkt, auch wenn sie mir bei der Entscheidung nicht helfen konnten, weil sie selber nicht wussten, was eigentlich der richtige Weg sein würde“.

Und so habe sie mehr und mehr die Bürde gespürt, nicht nur die Entscheidungen für die Zukunft allein treffen zu müssen, sondern dabei auch die Träume, die sich ihre Eltern nicht hatten erfüllen können, mit zu leben. „Die waren einfach so furchtbar froh darüber, dass ich jetzt alle Möglichkeiten hatte. Praktika in verschiedenen Bereichen, Studium im Ausland, einen Beruf auswählen, der mir wirklich gefällt – also all das, was sie selbst gern gemacht hätten. Da wollte ich sie um keinen Preis enttäuschen.“

Der Druck war so groß, dass Eva Werner nicht zugeben konnte, dass die Dinge irgendwann nicht mehr so liefen wie gewünscht. Dass sie mit den Hausarbeiten im Rückstand war, verschwieg sie. „Ich habe mich einfach nicht getraut zuzugeben, dass ich das mit den vielen tollen Chancen irgendwie nicht hinbekommen habe.“ Monatelang erzählte sie Eltern und Freunden, dass das mit der Abschlussarbeit und den Prüfungen schon in Ordnung gehen würde. Bis zu dem Tag, an dem ihre Eltern eigentlich zur Abschlussfeier kommen wollten. „Da war dann auf einmal eine Mauer, es ging nicht mehr weiter. Ich habe wirklich darüber nachgedacht, mich umzubringen.“ Die Enttäuschung ihrer Eltern sei riesengroß gewesen, als sie ihnen gegenüber die Lügen beichten musste. „Damit hatte ich lange zu kämpfen.“

Eva Werner wie auch Hannah Sommer haben lange gebraucht, um mit Hilfe ihrer Therapeuten zu verstehen, dass mindestens ein Teil ihrer Probleme nicht nur mit ihrer ganz persönlichen Vergangenheit zu tun hatte, sondern auch mit dem Staat, in dem sie gelebt hatten. Vor 1989 gab es eine andere Erziehung und Sozialisation vor allem im Kollektiv. „Heute gelten polar entgegengesetzte Normen“, sagt Hans-Joachim Maaz. „Und die Übernahme des neues Verhaltens ist nicht in den Ostdeutschen gegründet. Sie tragen es nicht in sich und geraten deshalb in eine Krise.“

Dorothea Frick arbeitet sowohl in Weißensee als auch in einer Praxis im westlichen Stadtteil Schöneberg. Bei einigen ihrer ostdeutschen Patienten hat sie eine Angst vor Individualität festgestellt, weil die als „Chaos und Durcheinander“ empfunden werde. Und auch das: Während bei den aus Westdeutschland stammenden Klienten die Konflikte ihre Ursachen größtenteils in entwicklungsbedingten Defiziten haben, die innerfamiliär ausgelöst wurden, spielen bei ostdeutschen Patienten häufig gesellschaftlich-strukturelle Bedingungen bei der Genese der Symptomatik eine Rolle.

Mit der Frage jedoch, welche Rolle die eigene Vergangenheit im gegenwärtigen Leben spielt, wie groß und wirkmächtig Prägungen sind, die man in der Kindheit und Jugend erfahren hat, damit wiederum stehen die Ostdeutschen nicht allein. Dennoch gebe es „eine gewisse Tendenz, die Vergangenheit für nicht wichtig zu erklären“, meint der Potsdamer Therapeut Froese. „Dabei haben aber gerade die Ostdeutschen erlebt, wie fundamental die Geschichte die psychische Entwicklung einzelner Menschen beeinflusst.“

Schon vor zehn Jahren schuf der Verhaltenstherapeut Michael Linden den durchaus umstrittenen Begriff der „posttraumatischen Verbitterungsstörung“. Der Leiter der Forschungsgruppe Psychosomatische Rehabilitation an der Berliner Charité beschrieb damit erstmals die Unfähigkeit, ein bestimmtes, als kränkend, verletzend oder ungerecht empfundenes Ereignis zu verarbeiten. Anstatt, wie Depressive in Lethargie zu versinken, wüteten Verbitterte immer wieder gegen die Kränkung an und sinnten auf Rache. Linden sagt, dass die Welle der Verbitterten vor rund zehn Jahren ihren Höhepunkt erreicht habe.

Das innere ostdeutsche Erbe

Heute legen sich nun deren Kinder auf die Couch. Und auch bei jenen, die die Wendejahre vermeintlich unbeschadet überstanden haben, hält sich das innere ostdeutsche Erbe. Besonders paradox dabei ist: Je länger der Zusammenbruch der DDR zurückliegt, desto wichtiger wird für viele der ostdeutsche Teil ihrer Identität. Der Wunsch und die Überzeugung, die Unterschiede zwischen hüben und drüben würden sich von ganz allein auswachsen, ist somit widerlegt. Beredtes Zeugnis dafür ist jene bereits erwähnte Sächsische Längsschnittstudie.

Im Abstand von wenigen Jahren werden die 1973 Geborenen gebeten, Fragen zu ihren Erfahrungen mit dem Systemwechsel, ihren politischen Ansichten und Erwartungen an die Zukunft zu beantworten. Das prägende Gefühl für die Wendejahre, gaben die meisten zu Protokoll, war: Angst.

Angst vor allem davor, mit dem Arbeitsplatz auch die Existenz zu verlieren. Der Glaube, man könne sich an diese Bedrohung gewöhnen, wurde dabei schnell widerlegt: Gerade weil mehr als 70 Prozent der Teilnehmer mindestens einmal tatsächlich arbeitslos waren, sind die Werte für die persönliche Zukunftszuversicht weiter gesunken. Inzwischen fürchten sie nicht nur, den Job erneut zu verlieren, sondern sie haben auch Angst vor einer möglichen Armut im Alter – für die Wissenschaftler ein Signal für eine tiefe Verunsicherung, die nicht von allein verschwindet.

Verblüffend aber war für die Forscher auch: Obwohl gut ein Viertel der Studienteilnehmer inzwischen in den alten Bundesländern lebt, beschreiben sie sich noch immer eher als Ostdeutsche denn als Bundesbürger. Das, so die wissenschaftliche Erklärung, liege vor allem daran, dass die Ostdeutschen nach der Wende kaum eigene Institutionen, Vereine oder Medien gehabt hätten, in denen sie ihre Positionen, ihre Hoffnungen oder ihren Kummer hätten öffentlich artikulieren konnten. Stattdessen wuchs der Druck, nach westdeutschem Vorbild zu funktionieren. Auch wenn das äußerlich betrachtet vielen der Befragten inzwischen gelingt, schneidet in der Längsschnittstudie die DDR im Vergleich zum heutigen System in sozialer Hinsicht von Jahr zu Jahr besser ab.

Von der Euphorie der friedlichen Revolution ist nicht viel übrig geblieben – und viele Westdeutsche sind inzwischen genervt von den Ostdeutschen, die noch immer lamentieren und nicht dankbar sein wollen für die Segnungen der freien Marktwirtschaft. Und im Osten will und kann man die Erinnerung an das frühere Leben nicht ausschalten, auch wenn gerade dort von den Politikern und Medien, vor allem den Regionalzeitungen, das Gegenteil behauptet wird. Zur Genesung vom Aneinander-Leiden aber könne vor allem das Miteinander-Reden beitragen. Michael Froese und Christoph Seidler weisen ausdrücklich auf die Rolle der Öffentlichkeit hin. Vielen Patienten wird erst durch mediale Debatten ermöglicht, sich psychotherapeutische Hilfe zu suchen und sich dort zu trauen, über bisher gemiedene, abgespaltene oder verdrängte Erlebnisse zu sprechen.

Und mehr Selbstbewusstsein: Der Westen dürfe die Anpassungsleistung des Ostens nicht länger „als eine Art Bringschuld“ betrachten, weil der ja schließlich eingegliedert werden wollte, sagt Jochen-Friedrich Buhrmann. Im Osten dagegen dürfe man sich nicht in der Überzeugung einigeln, dass es Anerkennung ohnehin nicht gebe. Dass die DDR und die Zeit danach für die eigene Identität eine Rolle spielen, so die Botschaft, ist kein Makel. Auch wenn es wohl noch eine Zeit dauern wird, bis der überwiegende Teil der Ostdeutschen die Frage aller Fragen tatsächlich mit „Ja, natürlich!“ beantworten wird können.

Susanne Kailitz lebt als Journalistin in Dresden

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