Böse

Linksbündig Das Erdbeben von Lissabon und die Flut von New Orleans

"Die Toten begraben und die Lebenden versorgen". Das war der erste Befehl des portugiesischen Premierministers Pombal, der nach dem großen Erdbeben von Lissabon, der ersten weltweit erlebten Katastrophe, die Führung übernahm. London schickte ein Schiff mit Nahrung und Hilfsgütern, Preußen sagte sämtliche Karnevalsfeiern ab. Wir wissen wenig darüber, wie das Erdbeben in China oder Madagaskar aufgenommen wurde. Aber vor Ort in Lissabon beschlagnahmte Pombal Kornvorräte, organisierte die Beseitigung der Leichen und stellte eine Miliz auf zum Schutz vor Plünderern und Piraten. Seine Bemühungen waren so erfolgreich, dass Lissabons wöchentliche Zeitung ohne Unterbrechung erscheinen konnte. Verlässliche Informationen waren für die Wiederherstellung der Ordnung ausschlaggebend, das wusste Pombal. Man schrieb das Jahr 1755.

250 Jahre später sind das Einzige, das in New Orleans funktioniert, die Nachrichten. Von ihren Wohnzimmern in Stockholm oder Bombay aus konnten Millionen von Menschen im Stich gelassene Afro-Amerikaner beobachten, wie sie CNN-Kamera-Teams anbrüllten, waren fassungslos angesichts im Wasser treibender Leichname und hilflosen Kranken in aufgegeben Hospitälern. Sie mögen sich gefragt haben, auf welchen Begriff von sozialer Verantwortung ein Staat gründet, der seinen Bürgern die Evakuierung anordnet ohne über die Umsetzung nachzudenken. Ist das Ausmaß der Katastrophe an der Golfküste größer als das des Erdbebens von Lissabon? Natürlich. Aber größer sind auch die Ressourcen, damit umzugehen.

Das Erdbeben von Lissabon ist weniger wegen der Effizienz, mit der die Verantwortlichen die Tragödie gemeistert haben, in Erinnerung als vielmehr wegen der modernen Geisteshaltung, die in dieser Effizienz zum Ausdruck kam. Nicht jeder in Portugal unterstützte die Bemühungen des Premierministers. Viele Priester zum Beispiel dachten, dass Beten und Fasten und nicht pragmatisches Handeln die angemessene Reaktion sei. Pombals Insistieren darauf, dass das Erdbeben eine Naturkatastrophe war, der mit natürlichen Mitteln zu begegnen sei, markierte eine Wasserscheide im Verständnis des Bösen. Vor Lissabon waren Erdbeben, Stürme, Fluten und Kriege Teil jener Mixtur aus Sünde und Leid, die mehr oder weniger in Gottes Hand lag. Nach Lissabon kristallisierte sich die moderne Weltsicht heraus: Wir haben gelernt, das Böse als etwas zu sehen, das von Menschen mit bösen Intentionen vollbracht wird. Was uns sonst leiden lässt, betrachten wir als tragischen Schicksalsschlag. Pombals Erfolg beim Zurückdrängen seiner jesuitischen Kritiker war ein Sieg für die Auffassung, dass die Intentionen Gottes, was immer sie sein könnten, in öffentlichen Angelegenheiten keine Rolle spielen sollten. Hier sollten Menschen mit Verantwortung Vorsorge leisten, so weit sie können, und wo sie es nicht können, sollten sie Kompensationen bereitstellen; kurz gesagt: sie sollten mit der Intentionalität handeln, die weder Wind noch Wasser noch Beben besitzen.

Die Unterscheidung von natürlichem und moralischem Böse, die nach Lissabon so klar schien, ist seither immer schwammiger geworden - unter anderem durch die Erkenntnis, dass Menschen für sehr viel Böses verantwortlich sein können, das sie in diesem Ausmaß nicht intendiert haben. New Orleans unterstreicht die Schwierigkeit der Unterscheidung noch einmal, denn selten ging so viel Zerstörung auf so vielerlei Ursachen zurück. Unter der Ideologie des schlanken Staates führten Jahrzehnte ökologischer Verwüstung und sozialer Ungerechtigkeit zu einer besonders tödlichen Mischung der tobenden Naturgewalten.

Hat sich unser Denken über das Böse damit im Kreis gedreht? Eine klare Unterscheidung zwischen Naturkatastrophe und menschlichem Böse macht zunehmend weniger Sinn in einer Welt, in der wir Naturkräfte entfesseln können, die der Natur selbst den Garaus machen: sei es absichtlich, wie durch Atomwaffen, oder sei es gedankenlos, wie durch jene sich abzeichnenden ökologischen Verwüstungen, gegen die New Orleans dereinst wie eine sanfte Vorwarnung erscheinen könnte. Wenn die Ereignisse der vergangenen Wochen uns das zu begreifen zwingen, könnten sie zu einer Wende im Denken führen, so essentiell wie die nach Lissabon. Denn wenn menschliche Achtlosigkeit den Zorn der Natur erregt und daraufhin arme Menschen deren Gnade überlassen werden, ist das nicht lediglich tragisch. Es ist böse.

(Übersetzt von Barbara Schweizerhof)


Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden