Mitte der neunziger Jahre, während des Krieges im ehemaligen Jugoslawien, kritzelte ein niederländischer UNPROFOR-Armist in ungelenkem Englisch ein Graffiti an die Wand seiner Baracke in Potocari, einem 4.000-Seelen-Dorf unweit von Srebrenica: "No teeth ... ? A moustache ... ? Smel like shit ... ? Bosnian Girl!". 2003 nimmt die bosnische Konzeptkünstlerin Sejla Kameric die rassistische Spur des unbekannten Soldaten wieder auf, indem sie die hässlichen Worte auf ihr eigenes Portrait projiziert. Sauber und mit traumverlorenen Blick schaut Kameric da in die Kamera, so, wie das Weibliche tagtäglich in der Werbung ikonisiert wird. Der Kontrast zwischen dem geschmacklosen Witz und der makellosen Schönheit verdeutlicht die Überheblichkeit, mit der Europa auf sei
seine Krisenregionen blickt - eines der zentralen Themen des Gesamtwerks von Kameric, deren Videoinstallationen auf dem diesjährigen Crossing Europe-Filmfestival im oberösterreichischen Linz zu sehen waren. Seit März lebt sie als DAAD-Stipendiatin in Berlin.Die 1976 geborene Konzeptkünstlerin hat ihre Jugend im belagerten Sarajevo verbracht. Den Krieg und den damit verbundenen Verlust von Freunden, Verwandten - ihr Vater starb während der Belagerung -, Kindheit, Pubertät und seelischer Heimat reflektiert sie in den traumartigen Sequenzen von Videoinstallationen wie What do I know und Remains. In What do I know, entstanden für den diesjährigen Linzer Artist-in-residence-Aufenthalt, spielen Kinder längst vergessene Liebes- und Beziehungsgeschichten in einem alten Haus auf dem bosnischen Lande nach. Die Gegenstände, mit denen sich andernorts die Sehnsucht nach der Harmonie vergangener Zeiten ausdrücken ließe - ein altes Transistorradio, ein Opel Rekord aus den siebziger Jahren - verlieren vor dem Hintergrund des Bürgerkriegs ihre Unschuld. Sieben leere Stühle im verwilderten Garten holen die jüngere Geschichte endgültig ins Bewusstsein zurück, verweisen auf die Frage, wo die Familie heute ist, die in glücklicheren Zeiten auf diesen Stühlen gesessen hat.Auch in Remains (2006) geht es um Abwesenheit, hier eines 14-jährigen Mädchens: hinter einem vor der Leinwand hängenden Sommerkleid schweift die Kamera durch eine frühlingshafte Waldlandschaft, eine Kinderstimme zählt bis hundert. Doch durch die scheinbare Harmonie sickert schon bald der Grundton der Beklemmung. Remains rekurriert auf die Geschichte eines jungen Mädchens, das sich im Forst erhängt hat, nachdem es sexuell missbraucht wurde.Nach dem Krieg hat sich die studierte Grafikdesignein Kameric von ihrer Tätigkeit in der Werbebranche verabschiedet. In ihren Arbeiten, die inzwischen auch in Sydney und Pris?tina zu sehen waren, mischt sie Persönliches mit Plakativem, "instinktiv", wie sie betont. Dadurch bekommen die persönlichen Gegenstände einen universellen Charakter. Kameric ist durchaus bewusst, das ihre Herkunft aus dem symbolträchtigen Sarajevo eine Rolle bei der Rezeption ihrer Kunst spielt: "Man kann das als Problem betrachten, aber es macht einen auch stärker. Ich sehe keinen Sinn darin, mich dagegen zu wehren. Schließlich komme ich nun mal aus Sarajevo. Wenn ich dieses Label bekomme, sagt das mehr über die Leute aus, die mir dieses Label verpassen, als über mich."Schließlich ist Sarajevo der geeignete Ort, um über das Verhältnis zwischen dem Westen Europas und seinen kriselnden Rändern nachzudenken. Das eingangs beschriebene Bosnian Girl erhält eine besondere Brisanz dadurch, dass der Urheber des Graffitis zu derjenigen UNPROFOR-Einheit gehörte, die 1995 das Massaker von Srebrenica mit offenen Augen toleriert hat. Das bewusste Nicht-Eingreifen ist nicht nur Ausdruck einer Egal-Haltung, sondern der europäischen Zweiteilung zwischen Schengen und Nicht-Schengen, deren immanenter Rassismus sich in dem wertehierarchisch verklausulierten Schwarz-Weiß-Schema von Zivilgesellschaft und Krisenregion ausdrückt. Kameric verdeutlichte diese Zweiteilung 2000 auf der manifesta 6, als sie im Rahmen ihrer Installation EU/Others die Dreierbrücke im Zentrum von Ljubljana mit den Hinweisschildern "EU citizens" und "Others" versah. Letztere Bezeichnung markiert Menschen, die - wie eben die Bosniern Kameric - eine aufwändige Genehmigungsprozedur durchlaufen, bevor sie per Visum für einen kurzfristigen Zeitraum zu "richtigen" Europäern werden. Wie Europa ohne Visum aussieht, dürften diejenigen erfahren haben, die am 1. Juni 2002 an der Grenze zwischen San Marino und Italien vor einem verschlossenen Schlagbaum standen. Damals wurde die Übergangsstelle im Rahmen eines Kunstprojektes für eine halbe Stunde dichtgemacht.Auf die Komplexität, die sich da auftut, hat freilich auch Kameric keine Antwort. In der Endlosschleife Untitled/Daydreaming (2004) lässt sie von einer sanften Frauenstimme eine politische Grundlagenrede über zivilgesellschaftliche Werte vortragen, deren totalitäre Parteitagsrhetorik das süßlich verbrämte "Friss´ oder stirb" der Brüsseler Wertemaschine provokativ vor Augen führt. In den Ausstellungsräumen des Offenen Kulturhauses in Linz hing gegenüber die Installation Imagine, in der sich eine Frau, frische Erdbeeren putzend, über das anklopfende Elend beschwert: "Imagine, they dig through the garbage. Some people dig through the garbage. Imagine, through my garbage." ("Stell dir vor, sie durchwühlen Müll. Manche Menschen durchwühlen Müll. Stell dir vor: Müll")Dass die bosnischen Traumata zum europäischen Trauma kumuliert sind, ist bekannt. Die Mischung aus aggressiver Plakativität und alptraumwandlerischer Zurückhaltung, mit der Kameric diese Tatsache ins persönliche Bewusstsein zurückholt, zwingt dazu, einmal mehr darüber nachzudenken.