Botschaften

Berliner Abende Seit sie im letzten Jahr die Schule nebenan abgerissen haben, entwickelt die entstandene Brache ein interessantes Eigenleben. Von meinem Fenster aus ...

Seit sie im letzten Jahr die Schule nebenan abgerissen haben, entwickelt die entstandene Brache ein interessantes Eigenleben. Von meinem Fenster aus sah ich zu, wie auf dem planierten, umzäunten Areal im Winter die Pfützen einfroren und sich im Frühling das erste Grün hervorwagte. Erst kamen Löwenzahn und Gräser, dann blühten im Sommer Klatschmohn, Kornblumen, wilde Kamille und Sonnenblumen, kleine Ahorne und Götterbäume sprossen. Sie werden nicht sehr groß werden, denn die Fläche ist Bauland, aber immerhin. Man freut sich über das bisschen Anarchie, während ringsum das Viertel - ein ehemaliges Arbeiterquartier in Berlin-Mitte - schicker und teurer, ordentlicher und öder wird.

Als ich, wie jeden Morgen mit meinen Söhnen auf dem Weg zur Schule an der kleinen anarchischen Brache vorbeilief, fiel mir ein grüner Plastikschraubdeckel auf, der am Zaun hing. Er war sorgfältig mit kleinen Plastikdrähten an den Maschen befestigt, darauf war mit Filzstift geschrieben: JA. Ein Stück weiter ein anderes Fundstück: eine alte Tonkassette, auf dieselbe Weise aufgehängt, beschriftet nur mit dem Wort WENN. Es war rätselhaft. Und irgendwie liebenswürdig. Ob es Kunst war? Kunst lauert hier inzwischen an jeder Ecke, und man muss höllisch aufpassen, dass man nicht ständig hineintritt. Wenn es Kunst war, war es zumindest eine sehr stille Kunst.

Zwei Tage später warteten neue Überraschungen am Zaun: Ein Einmachgummi, auf dem stand: ICH SÄE WAS, WAS DU NICHT SIEHST. Um die Ecke dann ein kleines, eng beschriebenes Stück Pappe. Ich las: "Fette Geister auf der Mauer / Luegen liegen auf der Lauer / Schmeißen Beeren Zapfen Blaetter / Spielen Rache Engel Retter / rufen laut luis leise / Achtung! Hundescheiße".

Das warf mich endgültig um. Es war die schönste Hundescheiße-Poesie, die ich je gelesen habe, wenn ich überhaupt mal Poesie gelesen haben sollte, in der Hundescheiße vorkam. Zum Niederknieen schön. Ein stiller Poet, dessen Witz an Max Goldt oder an Robert Gernhardt erinnerte.

Die Kassette verschwand zuerst.

Ein paar Tage später war dann auch das Gedicht weg. Vielleicht ein gieriger Sammler, vielleicht ein vernichtungsfreudiger Ignorant oder ein Ordnungsfetischist, der keine Zettel an Zäunen duldete.

Es schien den Poeten nicht zu entmutigen. Es dauerte nicht lange, da hatte er eine liebevoll in zwei Spiralen aufgedröselte Klopapierrolle aufgehängt, auf der stand: ZWEISEELENKLEBER.

Das erklärte einiges.

Dann passierte plötzlich nichts mehr. Nur die Sonnenblumen wuchsen. Der Zaun schwieg. Mir fiel bald auf, dass ich sie vermisste, die geheimnisvollen Zaun-Botschaften. Und ich grübelte, wie das mit dem Zweiseelenkleber wohl ausgegangen war.

Erst kürzlich, an einem kühlen Herbstabend, als ich schon nicht mehr damit gerechnet hatte, gab es Neuigkeiten. Am Zaun hing ein flacher Stein, befestigt mit den vertrauten Plastikschlaufen, beschrieben mit schwarzem Tintenstift.

"Juten Morgen / schoene Frau / dass ick dir wiederschau / ick hab dir ueberall jesucht / hab alle Welt in Arsch jeflucht."

Ich ging beruhigt nach Hause.

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