Brennpunkt

Linksbündig In Kassel schließt am Wochenende ein soziales Archiv namens Documenta11

Als am 7. Oktober 2001 die Bombardierung Kabuls begann, gab es immer dieselben Bilder: Neongrüne Nachtbilder der afghanischen Hauptstadt, durchblitzt von fluoreszierenden Leuchtschlägen. Kurz vor Beginn des Luftkrieges hatte das US-Verteidigungsministerium alle verfügbaren Satellitenbilder über das Land aufgekauft. Niemand konnte mehr kontrollieren, was im Lande vor sich ging. Alle Kanäle mussten ihre Kriegsberichterstattung mit veraltetem Archivmaterial über Afghanistan illustrieren.

Der Krieg mutiert zum exklusiven Experimentalvideo. Die Kunst regrediert zum Dokumentarfilm. Vielleicht erklären solche "White-outs", warum die größte Kunstausstellung der Welt, die an diesem Wochenende zu Ende geht, soviel reales Elend aufgefahren hat. Denn Afghanistan ist nicht das einzige Beispiel für den unerklärten Bilderkrieg unserer Tage. Vergangenes Jahr wurde bekannt, dass Microsoft-Chef Bill Gates das sogenannte Bettmann-Archiv in einer Kalksandsteingrube im Westen Pennsylvanias "begraben" will. Dem Internet-Tycoon gehört schon die größte Sammlung wertvoller Autographen, darunter solche von Leonardo da Vinci. 1995 erwarb er auch noch die weltweit größte Sammlung historischer Photographie. In 65 Meter Tiefe soll dieser einzigartige Bilderfundus zwar aufgearbeitet, aber für die Öffentlichkeit unzugänglich bleiben. Was blieb dem chilenischen Künstler Alfredo Laar anderes übrig, als auf der Documenta11 ein schwarzes Rechteck auf die weiße Wand des Fridericianums zu projizieren. Lament of the images - Klage der Bilder hat er sein Kunstwerk genannt.

Wo die Realität derart unsichtbar gemacht werden soll, braucht sich niemand zu wundern, wenn die Kunst den verordneten Bildverlust wett machen will. Von den Erdbebenopfern in Japan bis zur Überbevölkerung in Lagos, vom Völkermord in Ruanda bis zum Leben der Eskimos reichten in Kassel die Versuche, den unterschlagenen Realitäten zu gerechter Repräsentation zu verhelfen. "Smash False Dreamlands", die Graffiti, die die österreichische Fotografin Lisl Ponger beim Streifzug durch das leere Genua nach dem blutigen G8-Gipfel auf einer Hauswand eingefangen hat, scheint das neue Motto der globalen Kunst. Nicht, dass die Leute nicht ehrlich berührt vor den Bildschirmen gesessen hätten, um sich die Bilder offiziell verschwiegener Ereignisse wie der vor der italienischen Küste ertrunkenen tamilischen Flüchtlinge vor Augen zu führen. Mit seinem strengen Konzept hat der nigerianische Kurator Okwui Enwezor der Documenta sogar zu wieder neuen Besucherrekorden verholfen. Aber nicht nur die Sinnlichkeit musste man in dem eh schon historisch ausgenüchterten und gesichtslosen Provinzkaff mit der Lupe suchen. Mitunter fühlte man sich in der Stadt der Gebrüder Grimm wie bei einem ARD-"Brennpunkt": die Documenta11 als didacta der Kulturgeschichte des globalen Elends. Die "erzählerischen Strukturen" dieser Dokumentationskunst, die Enwezor dieser Tage noch einmal verteidigt hat, sind so subtil, dass man sie fast übersieht. Nicht jeder kann Realität und Kunst so lyrisch verdichten wie die libanesische Künstlerin Mona Hatoum. In einem Video über die Beziehung zu ihrer Mutter hat die Künstlerin, die in London lebt, Bilder von deren Briefen und Gespräche der beiden zu einem nachhaltigen "Dokument" der Entfremdung verdichtet. Die Vokabel "Soziales Archiv", die der englische Künstler Craigie Horsfield für seine Dokumentation der Migrantengeschichte auf den Kanaren gefunden hat, trifft den Kern der diesjährigen Leistungsschau der Weltkunst eher. Es scheint, als wolle sich die Kunst wieder mit der Fotografie messen, die ihr im 19. Jahrhundert den zweifelhaften Rang des Berichterstatters aus der Realität abgejagt hatte.

Ob diese Selbstentäußerung des Ästhetischen der bedrohten Welt nützt? 1955 stand der Kasseler Kunstprofessor Arnold Bode vor dem ausgebombten Fridericianum, dem ersten öffentlichen Museum auf dem europäischen Kontinent. Andere Bilder einer besseren Zukunft waren rar. documenta hatte er seine erste Schau genannt, weil er die verfemten Energien vom Expressionismus bis zur Abstraktion wieder ins kriegsgeschädigte Bewusstsein leiten wollte. "Irgendwie muss man doch überleben", soll der "Vater" der documenta sein unerhörtes Ausstellungsexperiment auf den Trümmern des Krieges gerechtfertigt haben. Dem ästhetischen Denken hat das einen beispiellosen Schub beschert. Die Wiederholung dieser Erfahrung würde man den Menschen in Bagdad aber gern ersparen.

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