Eigentlich hätten bei Jens Lothar* die Alarmglocken läuten müssen. Seine damalige Frau erzählte ihm, ihre Tochter aus einer früheren Beziehung wolle mit ihrem Papa nichts zu tun haben. Heute ist der Marburger Chemiker um einiges klüger: Nach der Trennung im Jahre 2013 verlor auch er – gegen seinen Willen – zunehmend den Kontakt zu seinem damals siebenjährigen Sohn Felix und ebenjener Ziehtochter.
Erst erklärt Felix’ Mutter, sie müsse ihren Sohn dazu drängen, dass der seinen Vater besucht. Vater und Sohn sehen sich nur noch jedes zweite Wochenende. Dann folgt die Scheidung. Die Mutter zieht mit den Kindern, ohne Lothar zu informieren, ans andere Ende der Stadt. Lothar fühlt sich immer ohnmächtiger. Er wendet sich a
det sich an das Jugendamt, der Mitarbeiter verspricht zu helfen, wird jedoch krank. Während dieser Zeit unterbleiben die Besuche vollständig. „Als wir uns dann wieder sahen, schrie Felix, weinte, schmiss seine Spielsachen auf den Boden und rannte hinaus!“, erzählt Lothar. In den folgenden Monaten spitzt sich die Situation zu. Der Sohn wird ihm gegenüber immer abweisender und verweigert den Umgang schließlich ganz.BindungsstörungenDiese Geschichte von Jens Lothar ist kein Einzelfall. Eine Befragung des Instituts für Demoskopie Allensbach im Jahr 2017 ergab, dass 18 Prozent der Väter und drei Prozent der Mütter in Trennungsfamilien gar keinen Kontakt mehr zu ihren Kindern haben. Auch gegen ihren Willen. In der Fachliteratur wird dieses Phänomen als Eltern-Kind-Entfremdung (EKE, englisch: Parental Alienation, kurz PA) beschrieben: Das Kind gerät durch den Rosenkrieg der Eltern in einen Loyalitätskonflikt, solidarisiert sich mit dem Elternteil, bei dem es lebt – meist die Mutter –, und wird von diesem in vielen Fällen manipuliert oder zumindest unbewusst beeinflusst. In der Folge lehnt es den anderen Elternteil immer stärker ab. Selbst wenn das Gericht schlussendlich befürwortet, dass das Kind weiterhin beide Elternteile sieht, ist die Mauer, die sich zwischen beiden gebildet hat, oft bereits zu hoch. Dabei ist dieser Prozess nicht nur für die entfremdeten Väter oder Mütter traumatisch, sondern auch für die Kinder, die damit einen wesentlichen Teil ihrer Identität verlieren. Viele von ihnen leiden noch Jahre später unter Verlustängsten, Bindungsstörungen oder Depressionen.Meist geht dem Kontaktabbruch kein besonderes Ereignis voraus. „Es ist eher ein schleichender Prozess“, meint Elisabeth Kaufmann*, von ihrem Kind entfremdete Mutter und vormals selbst entfremdetes Kind. Zu der jüngeren Tochter habe sie nach der Trennung zunächst noch eine engere Beziehung gehabt, doch auch die habe sich immer mehr von ihr distanziert und sei schließlich zu dem Vater und der älteren Schwester gezogen. Für Letztere sei sie wohl von Anfang an „die Böse“ gewesen, die ihren Vater im Stich gelassen habe, obwohl dieser körperlich behindert und damit auf Hilfe angewiesen war. „Aber so funktioniert PA, dass ein starker Druck auf die Kinder ausgeübt, der andere Elternteil als unmöglich dargestellt wird und sich das Kind entscheiden muss“, erklärt Kaufmann.Die Bundesvorsitzende des Verbands alleinerziehender Mütter und Väter (VAMV), Miriam Hoheisel, sieht das anders: „Will ein Kind einen getrennt lebenden Elternteil nicht mehr sehen, ist das ein schmerzlicher Verlust und eine hohe Belastung für diesen. Die Schuld daran einseitig beim anderen Elternteil zu sehen, greift in der Regel allerdings viel zu kurz.“ So könnten die Ursachen dafür auch beim abgelehnten Elternteil liegen. Als Beispiele dafür nennt sie Gewalterfahrungen des Kindes, Vernachlässigung, emotionale Kälte oder miterlebte elterliche Gewalt.Karin Kokot, Vorsitzende der „Projektgruppe Eltern-Kind-Entfremdung/Kontaktabbruch“ im Bundesvorstand des Väteraufbruchs für Kinder e. V. (VAfK) warnt dagegen davor, Gewalt gegen Kinder und Eltern-Kind-Entfremdung in einen Topf zu werfen. Anders als etwa bei sexuellem Missbrauch seien die Motive der Ablehnung bei Eltern-Kind-Entfremdungen völlig irrational. Und eine unzureichende Unterscheidung kann zu ernsthaften juristischen Konsequenzen führen.Im Hinblick auf die Erkennung von Eltern-Kind-Entfremdung sieht Uli Severin erhebliche Defizite bei Familiengerichten und Jugendämtern. Er ist der Vorsitzende des VAfK Marburg (siehe Kasten). Als Sozialpädagoge begann er sich im Rahmen eines Lehrauftrags an der Marburger Uni für das Themenfeld Trennung, Scheidung, Väter und Kinder zu interessieren. Er bemängelt: Anders als bei Gewalt und Missbrauch werteten Gerichte und Ämter den emotionalen Missbrauch durch den betreuenden Elternteil nicht als langfristige Gefährdung des Kindeswohls. Hier bestehe Nachholbedarf bei der Schulung von Richter*innen und der Konzept-Entwicklung bei Umgangsbehinderung und -boykott.Placeholder infobox-1In der Regel bleiben die betroffenen Kinder, laut Severin, weiterhin bei dem betreuenden Elternteil. Der entfremdete Elternteil werde dagegen in vielen Fällen vom Umgang ausgeschlossen, hin und wieder wird ihm sogar das Sorgerecht entzogen. Das deckt sich mit den Erfahrungen der Vorsitzenden des Marburger Kinderschutzbundes, Renate Oberlik, die früher auch als Verfahrensbeistand tätig war. Der Blick sei immer noch vorwiegend auf die Mütter gerichtet, sie habe es aber auch schon erlebt, dass ein Richter die Lage einer entfremdeten Mutter nicht berücksichtigt habe. Väter wie Jens Lothar, die ungewollt den Kontakt zu ihren Kindern verloren haben, sind mit ihrem Verlust oft sehr allein. Beratung und Unterstützung finden sie bei Organisationen wie dem VAfK. Aber auch entfremdete Mütter wie Elisabeth Kaufmann landen manchmal hier. Bei ihnen kommt zu dem eigenen Schmerz noch das Unverständnis im Umfeld dazu: „Das Bild, dass die Kinder zur Mutter gehören, ist unglaublich verfestigt, auch in Frauenorganisationen. Da bekommt man ganz schnell den Stempel, eine ‚Rabenmutter‘ zu sein“, erzählt sie. Bundesweit sind heute rund sieben Prozent der Mitglieder dieser Organisation Frauen. Zurzeit ist im Gespräch, den seit über 30 Jahren existierenden Marburger Verein in „Väter- und Mütteraufbruch für Kinder“ umzubenennen.Antifeministische Umtriebe?Bei manchen Organisationen genießt der VAfK keinen guten Ruf. Einigen Ortsverbänden werden antifeministische und rechtskonservative Umtriebe nachgesagt. Der Politikwissenschaftler Thomas Gesterkamp etwa kritisierte das 2018 in der taz, schrieb aber an gleicher Stelle: „Der Väteraufbruch als Ganzes war jedoch nie antifeministisch orientiert, auch wenn es früh männerrechtliche Strömungen gab.“Das Motto des Vereins, „Allen Kindern beide Eltern“, teilt auch der Marburger Kinderschutzbund. Dieser habe keine Schwierigkeiten mit dem Väteraufbruch, meint Renate Oberlik. Das hinge vielleicht auch mit dem Engagement und den besonderen Fähigkeiten des hiesigen Vorsitzenden zusammen: „Der Blick für die Kinder ist da, das habe ich in gemeinsamen Beratungsgesprächen mit Uli Severin gemerkt, und das ist auch der Punkt, wo wir gut zusammenarbeiten können.“ Positiv wertet sie außerdem, dass auch Mütter in dem Verein willkommen sind. Der Marburger Kinderschutzbund plane, selbst im Bereich „hochstrittige Eltern“ und damit auch bei der Eltern-Kind-Entfremdung aktiv zu werden.Im Großen und Ganzen hat sich, aus Severins Sicht, die Situation der Väter seit Bestehen des VAfK verbessert. Ein Meilenstein war dabei die Kindschaftsrechtsreform 1998, die auch unverheirateten Männern grundsätzlich das Sorge- und Umgangsrecht für ihre Kinder zugesteht. „Mittlerweile beackern wir ziemlich alles rund um Familie und Kind“, erzählt Severin.Bei einer Trennung vor der Geburt oder im ersten Lebensjahr gehe es oft um eine Vaterschaftsanerkennung, ein gemeinsames Sorgerecht oder Unterhaltszahlungen. Noch immer verbleibt das Sorgerecht nach einem richterlichen Beschluss in drei von vier Fällen bei der Mutter, in einigen Bundesländern zeichnet sich jedoch aktuell eine Trendwende ab. Weitere Schwerpunkte des Vereins seien aber auch Beratungsgespräche vor einer Trennung oder Scheidung, Mediation zu Elternvereinbarungen und Wechselmodell. Dabei arbeitet er eng mit Anwält*innen, Gutachter*innen, dem Jugendamt und dem Marburger Kinderschutzbund zusammen. Auch Angehörige der Betroffenen wenden sich an den VAfK, ebenso wie Mütter ohne Umgangsrecht.Derzeit arbeitet eine Arbeitsgruppe des Bundesjustizministeriums an einem Entwurf, der das Recht erneut an die veränderte Lebensrealität vieler Familien anzupassen versucht. Dabei befürwortet sie, wie Bundesfamilienministerin Franziska Giffey, individuelle – möglichst einvernehmliche – Lösungen, von alleiniger Sorge bis zum paritätischen Wechselmodell (der Freitag 13/2019). Eine besondere Bedeutung soll dem Kinderwillen zukommen. Doch dabei müsse sehr genau hingeschaut werden, ob nicht ein induzierter Kindeswille hinter einer möglichen Ablehnung eines Elternteils stehe, betont die VAfK-Bundesvorsitzende Kokot.Vor rund einem Jahr kaufte der VAfK Marburg im Marburger Umland den Hof eines verstorbenen, langjährigen Vereinsmitglieds. Geplant ist in den nächsten Jahren, dort das Erlebnis- und Bildungsprogramm weiter auszubauen und ihn überregional für Trennungsfamilien anzubieten. Schon jetzt unterhält der Verein das Marburger Väterbüro, wo sich nicht ortsansässige Väter oder Mütter mit ihren Kindern treffen oder dort gegebenenfalls auch übernachten können.Uli Severin plädiert insgesamt dafür, im Fall von Eltern-Kind-Entfremdung seitens aller Beteiligten viel schneller einzugreifen. Beim Gerichtsverfahren sei es oft schon zu spät, um die Entwicklung umzukehren. So bei Lothar und seinem Sohn. Statt der Wiederaufnahme ihres Umgangs verordnete die Richterin der Familie im letzten Verfahren, sich Briefe zu schreiben: Dabei haben Felix und seine Mutter die Auflage, dem Vater einmal im Monat zu berichten. Lothar steht es frei, darauf zu antworten. Auch Kaufmann schreibt an ihre Kinder. Scheinbar ins Leere, denn sie antworten nicht. Severin spricht in diesem Zusammenhang von „aktivem Warten“. Auf diese Weise reiße die Beziehung zumindest nicht völlig ab. Manche dieser Kinder stehen, einmal erwachsen, plötzlich wieder vor der Tür.*Namen von der Autorin geändertPlaceholder authorbio-1
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