Ist die erhobene Mordanklage gegen Augusto Pinochet nicht nur für Chile, sondern für Lateinamerika überhaupt ein Bruch mit der "Kultur der Straflosigkeit"? Einer Rechtsprechung, bei der die Justiz nur Mündel der Politik sein darf? Nach dem Ende der Diktaturen in Brasilien, Uruguay, Argentinien, Paraguay und Chile zwischen 1983 und 1990 blieb es bei Ansätzen, schwere Menschenrechtsverletzungen juristisch zu ahnden. Recht bald wurde eine Amnestierung der Täter verfügt und erneut die "Kultur der Straflosigkeit" bedient. Ein Nein zu dieser "Schlussstrichmentalität" muss nicht automatisch Strafverfolgung bedeuten - Südafrika beispielsweise hat seit 1995 zu einem völlig anderen "Modell" gefunden.
Es dauerte keine zwei Monate, bis in Chile scheinbar nichts mehr war wie zuvor: Als der Ermittlungsrichter Juan Guzmán im Dezember erstmals einen Anlauf unternahm, den emeritierten Diktator vor Gericht zu stellen, sprachen die höchsten Militärs umgehend in drohender Manier beim Verteidigungsminister vor und zwangen die Regierung, den Nationalen Sicherheitsrat einzuberufen. Ende Januar hingegen, als Guzmáns Bemühungen nicht mehr von höherer Instanz gestoppt wurden, beschränkte sich der Armeechef Ricardo Izuríeta einzig darauf, Besorgnis über den Gesundheitszustand Pinochets zu Protokoll zu geben. Dafür wurde der General zwar von den Töchtern des Ex-Diktators heftig kritisiert, doch das war ein wenig bedeutsames Indiz für den erkennbaren Bruch zwischen dem greisen Autokraten auf der einen sowie aktiven Spitzenmilitärs auf der anderen Seite.
Diese Zäsur hatte zweifelsfrei Pinochet selbst besiegelt, als er gelegentlich seiner ersten Einvernahme durch Guzmán alle Schuld für die ihm zur Last gelegten Untaten auf Subalterne abzuwälzen suchte. Ein Vorgehen, das gemessen am hierarchischen Kodex, der chilenischen Offizieren vom ersten Tag ihrer Ausbildung an seit jeher eingehämmert wird, als "poco hombre" gilt. Sinngemäß übersetzt: Als Zeichen von Feigheit. Folglich trat umgehend der pensionierte General Joaquín Lagos vor die TV-Kameras, um seinen vormaligen Vorgesetzten der Lüge zu zeihen.
Somit könnte man die sich abzeichnende Tendenz, die chilenische Militärdiktatur endlich juristisch aufzuarbeiten, als Konsequenz eines Orientierungsverlustes und ins Wanken geratenen Selbstverständnisses der Uniformierten deuten. Derlei Elemente sind gewiss relevant - doch sie reichen allein nicht aus, einen Vorgang zu erklären, der für den gesamten Subkontinent von Bedeutung ist - gelegentlich sogar als Anfang vom Ende einer "Kultur der Straflosigkeit" gesehen wird.
Freundlicher Herbst der Patriarchen
Die Tradition, wonach in diesem Teil der Welt uniformierte Täter nach einem Machtwechsel nicht zur Verantwortung gezogen werden, ist in der Tat evident. Egal ob Chile, Argentinien oder Brasilien, Uruguay oder Paraguay: Der Herbst der Patriarchen lief für dieselben stets glimpflich ab. Zumeist ließ man sie in ein lukratives Asyl entkommen. Oder aber die Obristen-Regimes konnten - wie in Chile - noch selbst per Amnestiegesetz ihre Verbrechen für null und nichtig erklären sowie anschließend eine nie zu knapp bemessene Staatspension verzehren. Pinochet trieb es in dieser Hinsicht noch ein wenig weiter, indem er sich zudem als Senator auf Lebenszeit inthronisierte.
Der eigenen wie der internationalen Öffentlichkeit wurde derlei allemal als wohlfeiles Geschäft suggeriert, das zu tolerieren die Chance eröffne, zur Demokratie zurückkehren zu können. Um die Opfer von Repressalien noch einmal zu verhöhnen, wurden die erwähnten Amnestien zugleich auf Überlebende jener mehr oder weniger militanten Opposition ausgeweitet, die einst als Vorwand für die Errichtung einer Diktatur gedient hatte.
Die Ursprünge solch dreister Selbstherrlichkeit der Militärs und serviler Prinzipienlosigkeit der zivilen politischen Klasse reichen zurück bis in die Epoche kolonialer Verhältnisse wie deren Ablösung durch die von kreolischen Oligarchen geprägten Operetten-Staaten, die nur im Schutze von Militärkasten zu existieren vermochten. Die wiederum konnten sich als Belohnung für ihre - ohnedies nicht immer stabile - Loyalität eine eigene Justiz halten. Verfeinert und zum politischen Instrument umgeformt wurde diese Kultur der für die Generalseliten geltenden Straflosigkeit freilich erst durch die imperialistisch ordnende Hand der USA ab Mitte des 20. Jahrhunderts. Armeekarrieren wurden fortan in US-Militärschulen wie jener in der Panama-Kanal-Zone gestartet, in denen moderne Foltertechnik gelehrt und ideologische Aufrüstung betrieben wurde. Lateinamerika war nach 1945 Frontregion im Kalten Krieg. Rabiater Antikommunismus avancierte zur Hauptreligion der Armeen - auch wenn man die dafür benötigten Kommunisten nicht immer in ausreichender Menge vorrätig hatte. Um diesem Mangel abzuhelfen, lieferten die USA die "Ideologie der Nationalen Sicherheit" nach, die überall südlich des Rio Grande als politisch-strategische Begründung dafür diente, jede nicht systemkonforme Regung im Keim zu ersticken, bevor sie sich zu einer "Gefahr" für die soziale Hierarchie auswachsen konnte.
Freilich: auf diese Weise wurde vielenorts erst das Entstehen jener militanten, teils bewaffneten linksradikalen Opposition provoziert, die dann wiederum als Vorwand benutzt wurde, um zivile Regierungen von Militär-Regimes ablösen zu lassen. Wenn es Washington dann opportun erschien, wieder mehr demokratische Fassade zu zeigen, bot die bewährte "Kultur der Straflosigkeit" eine gute Handhabe, einen solchen Rollenwechsel möglichst geräuschlos in Szene zu setzen.
Perspektive des Provinzlers obsolet
1989/80 jedoch gingen mit dem Eisernen Vorhang zugleich unerlässliche Feindbilder verloren. Als dann noch in Nikaragua die sandinistische Regierung abgewählt wurde, gab es auch auf dem amerikanischen Festland weit und breit keinen Gegner mehr, der eine Fortschreibung alter Dogmen gerechtfertigt hätte. Ein wenig mag dazu auch die peinliche Invasion der US-Armee in Panama (Dezember 1989) beigetragen haben, als ganze Wohnviertel in Schutt und Asche gelegt wurden, bloß um den von der Leine geratenen CIA-Agenten Manuel Noriega einzufangen.
Die lateinamerikanischen Militärs sahen sich mit einem Mal weitgehend auf sich allein gestellt. Die bis dato gepflegte Selbstgefälligkeit geriet ins Wanken. Dazu trug hat nicht zuletzt eine in ihrem Selbstwertgefühl verändernde Zivilgesellschaft bei, die unter dem Eindruck einer explodierenden globalen Massenkommunikation stand. Die Perspektive des ignoranten Provinzlers, der sich selbst für das Maß aller Dinge und sein Land für den Mittelpunkt der Welt hält, begann zumindest für Teile der politischen Klasse ebenso wie für andere Eliten lateinamerikanischer Staaten obsolet zu werden. Man ahnte die Möglichkeit, vor dem Rest der Welt als halb zivilisiertes Fossil dazustehen und wurde solcherart sensibler für politische Kultur. Ein Anlass, die alten Mechanismen von Schuld und Selbstbegnadigung als nicht mehr so recht präsentabel zu begreifen. Mehr noch: Es steigt die Zahl lateinamerikanischer Intellektueller, die angesichts der dank eines klassischen südamerikanischem Wahl-Modus an die Macht geruderten neuen US-Administration nun Washington als letzten Hort einer "Kultur der Straflosigkeit" begreifen. Aus ihrer Sicht ist es nicht so bedeutsam, ob der Serbe Milos?evic´ vor dem Kriegsverbrecher-Tribunal von Den Haag erscheint, so lange dort kein Platz beispielsweise für Henry Kissinger wegen Chile oder für George Bush sen. wegen der Panama-Invasion von 1989 freigehalten wird.
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