Wenige Stereotypen sind unwidersprochener als jenes, die Sekundärliteratur zu Walter Benjamin sei ins Unübersehbare angeschwollen. Konkurrenzfähig ist allenfalls noch die Ansicht, dass seine Begriffe inflationär verwendet werden. Beide Ansichten haben ihre Ursache und Berechtigung, und ohne sie hätte es die Bände Benjamins Begriffe wohl nicht gegeben. Von "Ähnlichkeit" bis "Zitat" werden Benjamins zentrale Termini vorgestellt und philologisch in den Kontext der Schriften gestellt. "Zurück zu Benjamin" könnte das Motto heißen, nachdem sein "Flaneur" sowohl an jeder Straßenecke als auch rasend auf dem Datenhighway gesichtet wurde, "Aura" und "technisch reproduziertes Kunstwerk" zum festen Inventar der Kulturkritik gehören.
Der Benja
Der Benjamin-Hausse folgte bislang keine Baisse, und so drängt sich die Frage auf, ob nur ein unschuldiger Autor geplündert wird oder inwieweit dieser selber der Inflation Vorschub leistete. Viele der Autoren sind sich jedenfalls einig, dass Benjamins Art zu denken und zu schreiben ungewöhnlich war, und er seine Begriffe, wie Burkhard Lindner in seinem Essay zur "Allegorie" vermerkt, immer konkret benutzte und ihre Bedeutung folgerichtig in unterschiedlichen Kontexten modifizierte: "Benjamin schonte seine Begriffe vor einer inflationären Terminologisierung, wie sie der Wissenschaftsbetrieb erwartet." Womöglich ist diese Zurückhaltung dafür verantwortlich, dass eine frühe Rezeption seiner Schriften ausblieb, aber in jedem Fall verstärkt sie seine Präsenz seit den siebziger Jahren, denn ein Begriff, der ohne eindeutige Bestimmung gebraucht wird, Metaphern, deren Bedeutungen changieren, laden zur munteren und unbekümmerten Verwendung ein. Der Nachteil des groß angelegten Unternehmens Benjamins Begriffe liegt auf der Hand. Die Beiträge der zahlreichen Verfasser sind von unterschiedlicher Qualität, ausgezeichnete Essays stehen neben schlichten Kompilationen und Zitatsammlungen. Wiederholungen sind folglich unvermeidlich und wurden von den Herausgebern auch nicht als Sündenfall anerkannt und getilgt - sie sind sogar Benjaminianisch, denn so wird Benjamins Unbestimmtheit Rechnung getragen und die Kontexte, in denen Termini wie "Erwachen", "Allegorie" oder "Kritik" vorkommen, erhellt. Einige Zitate kehren derart häufig wieder, dass Kernsätze irgendwann auswendig gekonnt werden, jedenfalls wenn jemand sich entschließen sollte, die beiden Bücher komplett durchzuarbeiten. Für eine solche Verwendung sind sie aber nicht gedacht, denn in diesem Fall würden sie die Lektüre der Gesammelten Schriften ersetzen. Sie wollen sie jedoch ergänzen und vor allem der beliebigen Verwendung der Zitate, Themen und Figuren mit einer dem Werk verpflichteten Interpretation begegnen. Die Autoren verfahren methodisch unterschiedlich. Hans Heinz Holz ordnet Benjamins Verwendung des Begriffs "Idee" in die Philosophiegeschichte ein, Burkhardt Lindner bescheidet sich, wie die meisten anderen und in einem der besten Beiträge, mit einer werktreuen Darstellung. Er beginnt beim Trauerspielbuch und arbeitet die Faszination der barocken Allegorie für den modernen Theoretiker heraus: "Vergeblich versucht der barocke Allegoriker, der kreatürlichen Todverfallenheit durch bedeutende Signaturen zu entkommen und durch Bedeutungssetzung dem Leben metaphysischen Gehalt abzugewinnen. Er zerschlägt das Organische, um die Bruchstücke mit Bedeutung aufzuladen." Lindner verfolgt das Schicksal des Begriffs bis zum späten Passagen-Werk, erklärt wie ihn Benjamin mit den Phantasmagorien der Warenwelt verknüpft und nicht nur für die Erkenntnis der Moderne nutzbar machen, sondern auch als Mittel der Kritik einsetzen will. Thomas Weber beschreibt, wie Benjamins Begriff "Erfahrung" über die Konzepte von Bergson und Proust hinausgeht und eine dialektisch-materialistische Wendung erfährt. Die Erfahrungen der materiellen Produktion, derWirtschaftskrise und des Krieges werden durch den warenästhetischen Schein und durch auf Information basierende Mitteilungsformen ausgeblendet. Erzählungen stehen vor der Aufgabe, diesen Schein zu durchbrechen. Diese Theorie liest sich, als wäre sie für die Postmoderne geschrieben, die Analogien drängen sich auf. Darin dürfte auch der Reiz liegen, Benjamin bruchlos in die Gegenwart zu übertragen, aber die Beiträge in diesen zwei Bänden insistieren mit ihrer philologischen Orientierung auf der historischen Distanz. Benjamins Schriften aus den zwanziger und dreißiger Jahren liefern eine Grundlage, auf der aufgebaut werden kann, um die gegenwärtigen Phantasmagorien zu verstehen. Benjamins Begriffe ersetzt jedenfalls etliche der notorischen hübschen Bildbände, mit denen neuerdings die Buchhandlungen dekoriert werden.Benjamins Begriffe: Hrsg. von Michael Opitz und Erdmut Wizisla, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2001, 2 Bände, 854 S., 20 EUR