Mutig? Mutig sind die Geflüchteten, nicht die Retter

Sea-Eye Was Tobias Schlegl als Rettungssanitäter auf der Sea-Eye 4 erlebt, erzählt er in seinem packenenden Buch „See.Not.Rettung“
Ausgabe 09/2022
Die „Sea-Eye 4“ mit etwa 850 Flüchtenden an Bord, aufgenommen im November 2021
Die „Sea-Eye 4“ mit etwa 850 Flüchtenden an Bord, aufgenommen im November 2021

Foto: ZUMA Wire/IMAGO

„Jeder, der mit eigenen Augen sieht, was hier im Mittelmeer passiert, ist nicht mehr dieselbe Person“, schreibt Tobias Schlegl. Erst wer mit dem Leid der Geflüchteten in Berührung kommt, begreift das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen an den europäischen Außengrenzen. Der Autor machte diese Extremerfahrung 2021 auf der ersten Mission des zivilen Seenotrettungsboots Sea-Eye 4 vor der libyschen Küste. Sein Leben hatte der Fernsehmoderator bereits 2016 verändert, als er sich zum Notfallsanitäter ausbilden ließ, um mehr „gesellschaftlich Relevantes“ zu tun. In seinem ersten Buch Schockraum berichtete er von diesem belastenden Beruf. Was er jedoch beim ehrenamtlichen Einsatz als Rettungssanitäter auf See erlebte, verschob seine Prioritäten aufs Neue.

Schlegl schreibt Tagebuch – 33 Tage extremer körperlicher und emotionaler Anstrengung. Sein Bericht wechselt gekonnt zwischen Spannung, Tragik und Komik, dazu eindrucksvolle Fotos. Die Mission begann für ihn mit einer Mischung aus „Vorfreude und blanker Angst“. Vor der Abreise hieß es, wie mutig er sei, welch Engagement! Doch bald wird ihm klar, dass es die Geflüchteten sind, denen der Respekt gebührt, weil sie sich bewusst zu einer Flucht entscheiden, die oft tödlich endet: „Die See ist kein sicherer Ort für Kinder. Niemand würde sein Kind dieser Gefahr aussetzen, wenn die Situation an Land nicht noch schlimmer wäre“, so der 44-Jährige, der seit 1995 vor der Kamera steht.

Seine ersten fünf Tage an Bord vor Anker in Spanien sind den Vorbereitungen gewidmet: das Schleppen von tonnenweise Nahrungsmitteln, Wasser, Schwimmwesten. Das Einrichten der Krankenstation. Übungen für den Ernstfall. Er lernt, dass die Geflüchteten an Bord „Gäste“ genannt werden, um sie nicht auf ihre Flucht zu reduzieren. Fast zu harmlos, findet Schlegl, denn ihnen sei großes Leid widerfahren.

Hässliches Europa

Als die Sea-Eye 4 in See sticht, gerät die Mission allmählich vom „Action- zum Horrorfilm“. Mit jedem Tag, den das 53 Meter lange Schiff auf die „Search and Rescue Zone“ von Nordafrika zusteuert, wächst die Anspannung. Als Moderator der Satiresendung extra 3 versteht „Tobi“ Schlegl sich auf Humor, etwa wenn er erzählt, wie er seine Seekrankheit in den Griff bekommt: „Das ist mir auch noch nie passiert, dass ich mich direkt nach dem Kotzen satt futtere. Fühle mich wie ein Heidi-Klum-Topmodel.“ Seine Leserschaft spürt jedoch die Bedrohung aufziehen, wird mitgerissen von den Ereignissen auf dieser gefährlichen Reise. In der „War Zone“ sind seit 2014 über 20.000 Menschen ertrunken. „Plus Dunkelziffer. Ein riesiges Massengrab“. An Tag zehn kommt der erste Notruf von Alarm Phone, einer selbst organisierten Hotline für Geflüchtete in Seenot. Die Crew eilt zur Rettung, sie muss vor der libyschen Küstenwache eintreffen, damit die Menschen nicht illegal nach Libyen zurückgeschoben werden. Es ist Seemannspflicht, zu retten, ein humanitäres Recht, das an den EU-Außengrenzen immer brutaler gebrochen wird. Rechtsanwälte sprechen mittlerweile von Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Vier Tage später haben die Seenothelfer 408 Menschen an Bord gerettet, darunter 150 Minderjährige. Nun steht deren Versorgung und die Behandlung kritischer Patienten im Vordergrund. Die Haut der Gäste erzählt „Geschichten von Gewalt, Krieg und Folter“, so Schlegl. Die geretteten Frauen berichten von Zwangsprostitution, Misshandlungen und Vergewaltigungen. Nach sechs Rettungseinsätzen innerhalb von 24 Stunden ohne Schlaf und Essen weicht der enorme Druck. Tobi und Marlene, Intensivkrankenschwester aus Berlin, albern herum, bis die Tränen kommen, gefolgt von Schluchzen. Der Anblick der Babys und Kinder, manche von ihnen bis zum Erstarren traumatisiert, tut weh.

Schließlich die Suche nach einem sicheren Hafen, quälende Warterei an Italiens Küste. Als die Gäste endlich an Land dürfen, steht ihnen noch mindestens ein Jahr zermürbender Unsicherheit als Gefangene in Lagern bevor – viele werden wieder in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt. Im Umgang mit Geflüchteten zeige Europa sich von seiner hässlichsten Seite, so Schlegl. Keine sicheren Fluchtwege für jene zu schaffen, die vor den Folgen des Klimawandels, der Ausbeutung ihrer Ressourcen, vor Krieg und Gewalt fliehen, sondern ihren Tod billigend in Kauf zu nehmen, nennt er menschenverachtend und rassistisch.

Info

See. Not. Rettung. Tobias Schlegl Piper Verlag 2022, 224 S., 16 €

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